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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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könnte es auch meine Mutter gewesen sein, und wir lachen gemeinsam. Dann wieder schildert er eine Mutter, die ich gar nicht kenne, eine besonnene und unbestechliche Frau, der man gar nichts vormachen konnte, eine praktische Frau, die ihn schon zeitig darauf vorbereitete, daß Wilfried eben nie eine richtige Frau würde heiraten können, wenn er nicht ordentlich Geld verdiente. Meine Mutter war gar nicht so. Sie liebte es, wenn ich ihr etwas vormachte, und im Hinblick auf die Zukunft rechnete sie mehr mit meinen inneren Werten, überzeugt, daß ich alles heiraten könnte, was ich nur wollte, schlechterdings jede Frau, ausgenommen meine liebe Mutter selbst,was ich früh bedauerte, und die Sorge meiner Mutter bestand eher darin, ob wohl die Person, die ich dereinst bringen würde, auch meiner wirklich ganz würdig wäre. Einmal, ich erinnere mich, hatte ich versucht, unseren alten Nachbarn in seinem Gärtlein, wo er die Zeitung las, mit Kirschsteinen zu bespucken; meine Mutter ereiferte sich über seinen unerhörten Verdacht dermaßen, daß ich alles bestritt, um sie vor dem Herrn nicht bloßzustellen. Meine Mutter und ich hielten zusammen, nach einer Aussage meines Stiefvaters, wie die Kletten. Wilfried hatte seinen richtigen Vater. Und meine Mutter, das weiß ich, hätte vor Lehrern nie geweint; sie hätte alles bestritten oder ein bißchen Verständnis erwartet seitens der Lehrer. Ich war ein zartes Kind. Wenn meine Mutter, Gott weiß wie, die Polizeibuße bezahlt hatte, brachte ich ihr viel Schlüsselblümchen; dann weinte sie, meine Mutter, doch nicht vorher. Seine Mutter erwartete keine Schlüsselblümchen, sondern verlangte von Wilfried, daß er sich bei den beleidigten Lehrern persönlich entschuldigte. Es ist komisch, wie verschieden Mütter sein können! ...
    »Nun liegt sie auch schon vier Jahre da drüben«, sagt Wilfried.
    »Bloß nicht in der Stadt begraben werden, bloß nicht neben Leuten liegen, die man zeitlebens nie gesehen hat, das fand sie widerwärtig –«
    Einmal kommt der Wirt, der Wilfried mit Namen begrüßt, dann auch mir die Hand schüttelt. Wilfried redet mit den Leuten, ohne sich dabei auch nur um eine Nuance zu verstellen. Das kann ich nicht. Warum eigentlich nicht? Und dann, wieder unter vier Augen, soll ich von Julika berichten: wie’s ihr in Paris gehe. Julika ist von Paris hierher zum Begräbnis gekommen mit ihren roten Haaren. Seither hat Wilfried sie nicht mehr getroffen. Wilfried trägt eine gestrickte Weste. Kalifornien interessiert ihn sehr; Wilfried wollte ja einmal nach Argentinien als Landwirt, was dann wegen Mutter nicht ging, und so rede ich denn von Kalifornien, ohne Kalifornien zu denken oder zu sehen, vielmehr sehe ich das Grab mit Immergrün und poliertem Travertin, ohne meine Mutter zu denken oder zu sehen, und für Wilfried ist alles in Ordnung. Sein Bruder, der verschollene, war wohl immer etwas absonderlich. Das sagt er aber nicht, auch nicht mit Anspielungen. Wilfried ist nicht zweideutig, nicht geistreich, nicht neugierig, ein Mensch des natürlichen Daseins, nicht des Ausdrucks. Noch wenn ich schweige, komme ich mir vor ihm geschwätzig vor. Wilfried trinkt wenig und vermutlich überhaupt nur mir zuliebe, dabei findet er den Wein sehr gut, was ich wiederum rührend finde, denn es ist ein mäßigerWein, kraftlos, eigentlich nur Faßgeschmack. Und all das ist sehr selbstverständlich, sehr seltsam, ein Gespräch mit vielen Pausen, so daß man die Katze schnurren hört, und als Wilfried nochmals seine Einladung wiederholt, betreffend Wohnen bei ihm und seiner Frau, merke ich, daß mir Tränen sehr nahe sind; dabei bin ich diese ganze Zeit wie ohne Gefühl. Er ist ein Bruder, was ich nicht bin, und es stört ihn nicht einmal, daß ich es nicht bin. Ob ich auch Hunger habe? Wilfried will mich von nichts überzeugen, und das hat etwas Entwaffnendes. Und er hat keine Bangnis vor dem Schweigen, wogegen ich wieder von den neuzeitlichen Farmen in Kalifornien rede, die Wilfried aus Publikationen natürlich besser kennt als ich. Etwas Amüsantes beiläufig: in jener Illustrierten, die über die Tänzerin Julika und ihren verschollenen Mann unterrichtete, war auch eine große Reportage über moderne Schädlingsbekämpfung, die Wilfried, als ich im Gespräch darauf komme, zum Lachen bringt; nicht einmal in dieser Sache stimmt es, was die Illustrierte verkündet. Das amüsiert mich. Sooft es aus irgendeinem Zusammenhang (etwa Militärdienst) hervorgeht, daß Wilfried um fünf

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