Stiller
sind, mit gestelltem Granit säuberlich eingefaßt, alle etwas zu kurz, so daß man den Schrecken hat, den Toten auf den Füßen zu stehen, dazwischen Kieswege, Immergrün am Rand, in der Mitte des Grabes eine tönerne Vase, ein paar welke Astern drin, hinter dem Stein eine rostige Blechbüchse, um die Blumen zu begießen. Heute regnet es aber. Wir stehen zusammen unter dem Schirm, und von der Turmuhr schlägt es drei Uhr. Der Stein ist eher komisch, Grabsteinkunst, so eine Allegorie. Da und dort eine kleine Zypresse, die dieses graue Manhattan von Grabsteinen überragt. Einmal fragt Wilfried:
»Wie findest du übrigens den Stein?«
»Ja«, sage ich ...
Es gehört zu Wilfried, einen Schirm zu haben. Ich habe nie in meinem Leben einen eigenen Schirm gehabt, aber jetzt bin ich froh um einen Schirm. Es ist ein ländlicher Friedhof, ein Kirchhügel mit alter Ulme, eine belanglose Kirche aus dem späten neunzehnten Jahrhundert; bei gutem Wetter hätte man gewiß eine hübsche, stille, weite Aussicht über den See und gegen die Berge hin. Heute alles grau, ein triefender Herbsttag, Nebel um die Wälder. Wir stehen lange so da, während es auf dem schwarzen Schirm leise trommelt, beide wortlos, beide gebärdelos wie eben zwei Protestanten. Die Inschrift: Hier ruht in Gott. Andere haben andere Inschriften: Ruhe sanft! oder sonst eine vage Lyrik. Der Stein, Travertin, ist leider poliert. Es tropft vom Schirm hörbar auf braunes Laub. In der übernächsten Reihe ein frisches Grab, ein Berg aus lehmiger Erde, Kränze drauf. Dann schlägt es wieder von der Turmuhr. Es ist kalt, naß, grau ...
Danach gingen wir in eine Wirtschaft.
Wilfried Stiller, jünger als ich, ist ein praller Mann mit einer gebräunten, rauhen und straffen Haut. Man sieht schon, daß er viel an Luft und Sonne ist. Sein schwarzes Haar ist kurz geschoren wie bei Bauern oder Militärs. Er hat mich in einem Jeep hierhergefahren, der aber nicht ihm persönlich gehört, sondern der Landwirtschaftlichen Genossenschaft. Er ist dort Verwalter in der Obstabteilung ... Natürlich sprechen wir über unsere Mutter, während Wilfried immerzu (nur vorher auf dem Friedhof nicht) Stumpen raucht, die gleiche Sorte wie damals der Kommissär beim Zoll. Seine Mutter war ordentlich streng, scheint es, meine ja gar nicht. Wenn Wilfried etwa erzählt, wie seine Mutter ihn einmal, da er im Keller öfter Kompott genascht hatte, einen ganzen Tag lang in den Keller sperrte, um ihm dieseGegend ein für allemal zu verleiden, so kann ich wohl lachen mit dem Mann, der jenen Tag im finsteren Keller mit praller Gesundheit überstanden hat; doch meine Mutter ist das nicht. Die hätte so viel Erziehung nie übers Herz gebracht. Seine Mutter sagte: Jetzt nimm dich zusammen, wenn du ein rechter Bub sein willst! Meine Mutter sagte: Jetzt laßt doch den Bub mal in Ruhe! Meine Mutter war überzeugt, daß ich mit diesem Leben schon fertig werde. Ich erinnere mich, wie ich einmal durchs Schlüsselloch zuhörte, als meine Mutter einer ganzen Gesellschaft alle meine lustigen und offenbar gescheiten Aussprüche von der vergangenen Woche berichtete und großen Erfolg damit hatte. Derartiges hat Wilfried nie erlebt; seine Mutter hatte Sorge, daß aus Wilfried nie etwas Rechtes würde, und der gesunde, etwas rauhe, in seiner Trockenheit so herzliche Mann, der mir gegenüber am lackierten Wirtshaustisch sitzt und seine Stumpen raucht, sagt denn auch selbst, er wäre kein begabtes Kind gewesen; nicht einmal Klavierspielen hatte er gelernt. Meine Mutter, weiß ich, sparte es sich an Putzfrauen und Glätterinnen ab, putzte und bügelte selbst, auf daß sie jeden Monat meine Flötenstunden bezahlen konnte; denn ich galt als begabt. Drollig waren beide Mütter! Wilfried berichtet, daß seine Mutter, natürlich genau so respektabel wie die meine, rohe Leber über alles liebte, weit mehr als Süßigkeiten: nun konnte ihr ja niemand zum Geburtstag oder Muttertag ein Päcklein rohe Leber schenken, sie mußte sich also ihre Leckerbissen schon selbst besorgen. Das tat sie denn auch! Einmal, als ein Fußball ins Gebüsch geflogen war und Wilfried ihn suchen wollte, fand er seine Mutter in der verborgensten Nische eines öffentlichen Parkes, rohe Leber essend; sie war zu Tode erschrocken, die Gute, dann mit wahllosen Ausreden beflissen, Wilfried zurückzuhalten, bis er alles von seiner lieben Mutter glaubte, bloß nicht etwa, daß sie da rohe Leber gegessen hätte! Wenn Wilfried mit solchen Erinnerungen kommt,
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