Stiller
Jahre jünger ist als ich, irritiert es mich. Ich sehe ihn so, wie man als Bub die Männer sieht, alterlos, aber unter allen Umständen überlegen. Ebenso irritiert es mich, daß dieser Mann bei keiner noch so komischen Divergenz unserer Wesen seinerseits irritiert ist, sondern ohne weiteres annimmt, daß mein Leben für ihn zwar unverständlich, für mich aber sicherlich in Ordnung ist, und irgendwie wahrt er dann einfach, indem er sich keineswegs einmischt, eine Distanz der Achtung, die mich jedesmal beschämt, unsicher macht. Aber diese Achtung ist ihm ernst. Ich wage keinen Wein mehr zu bestellen, keinen anderen, wiewohl Wilfried, ich weiß es, nichts dagegen hätte; es ist schließlich ein besondrer Tag, wert, ein wenig gefeiert zu werden. Von seinen Kindern höre ich, daß sie eben den Mumps der Reihe nach überstanden haben; es bleiben ihnen noch die Masern. Wie Wilfried, nachdem er seinen Rock über die Stuhllehne gehängt hat, Brot und Käse ißt, um für seine lange Fahrt in dem nicht gerade bequemen Jeep gestärkt zu sein, ohne dazu nochmals Wein zu bestellen, frage ich mich, ob ich nicht, wenn auch ungefragt, mich erklären sollte – weiß aber nicht wie, eigentlich auch nicht wozu! ... Für Wilfried ist es eine klare Sache, daß wir Brüder sind, unter einem schwarzen Schirm vor einem Grab stehen, und uns dann wieder trennen.
Kurz vor fünf Uhr wieder in Zürich.
Jetzt (indem ich das notiere) sitze ich in einer Bar. Allein in der Stadt! Eskommt mir wie ein Traum vor; dabei ist meine nächste Umgebung, ein Rudel von frisch aufgemachten, auf den ersten Abendeinsatz wartender Zürcher Kokotten, alles andere als traumhaft. Niemand meint, daß er mich kenne. Wenn ich auf sechs Uhr nicht in mein Gefängnis ginge? Wilfried hat mich ans Bellevue gefahren; er hat noch eine lange Fahrt vor sich und morgen wieder einen strengen Tag, anderseits habe ich noch eine Stunde lang Ausgang, sofern Wilfried bei mir bleibt. Er gab mir seine Hand.
»Ja«, sagte ich, »– und wenn ich abhaue?«
Er lachte, seine Hand schon am Hebel.
»Das mußt du selber wissen!« meinte er, und sein Jeep nahm einen Ruck, weg war er ... Was hätte ich ihm erklären sollen? Es gibt viele Menschen, denen ich näher, dem Verständnis nach sehr viel näher stehe als diesem Mann; er kommt als Freund nicht in Frage. Er hat denn auch seine eigenen Freunde, die mir vollkommen fremd sein werden, und es würde auch ihm, denke ich, nicht einfallen, mich zu seinen Freunden zu zählen. Und doch, in der Tat, ist er der einzige Mensch, bei dem es mir nichts ausmacht, wenn er mich, im Sinn eben einer klaren Sache, mit dem verschollenen Stiller verwechselt, also im Grunde mißversteht. Was heißt denn Verstehen! Freunde müssen einander verstehen, um Freunde zu bleiben; Brüder sind immer Brüder. Warum bin ich nie sein Bruder gewesen? Die heutige Begegnung hat mich doch sehr verwirrt. Wie stehe ich in dieser Welt?
»Sie bestreiten noch immer?« fragt mein Verteidiger, kaum bin ich wieder ins Gefängnis zurückgekehrt. »Sie bestreiten noch immer?«
»Ja«, sage ich, »ich bestreite noch immer –«
»Das ist doch lächerlich!« sagt mein Verteidiger.
»Es ist lächerlich«, sage ich, »aber wenn ich gestehen würde, was Sie gestanden haben möchten, Herr Doktor, dann wäre es noch lächerlicher.«
»Ich verstehe Sie nicht«, sagt mein Verteidiger.
»Das weiß ich«, sage ich, »darum bin ich ja genötigt, Herr Doktor, alles zu bestreiten, was Sie von mir sagen –«
Ja; – wer denn soll lesen, was ich in diese Hefte schreibe! Und doch, glaube ich, gibt es kein Schreiben ohne die Vorstellung, daß jemand es lese, und wäre dieser Jemand nur der Schreiber selbst. Dann frage ich mich auch: Kann man schreiben, ohne eine Rolle zu spielen? Man will sich selbst ein Fremder sein. Nicht in der Rolle, wohl aber in der unbewußten Entscheidung, welche Art von Rolle ich mir zuschreibe, liegt meine Wirklichkeit. Zuweilen habe ich das Gefühl, man gehe aus dem Geschriebenen hervor wie eine Schlange aus ihrer Haut. Das ist es; man kann sich nicht niederschreiben, man kann sich nur häuten. Aber wen soll diese tote Haut noch interessieren! Die immer wieder einmal auftauchende Frage, ob denn der Leser jemals etwas anderes zu lesen vermöge als sich selbst, erübrigt sich: Schreiben ist nicht Kommunikation mit Lesern, auch nicht Kommunikation mit sich selbst, sondern Kommunikation mit dem Unaussprechlichen. Je genauer man sich auszusprechen
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