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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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wie vor über alles stelle, anderseits die moderne Kunst nicht mehr ausschließlich als Zerfall betrachte, und der Graphiker, offenbar durch beträchtlichen Erfolg bekehrt, hat jeglichen Kultur-Pessimismus überwunden, verweist auf den hohen Stand der schweizerischen Graphik und braucht seinerseits, offen gesprochen, weder Kommunismus noch Katholizismus, um seine Aufgabe in dieser Welt zu sehen. Der Hauseigentümer hinwiederum, Antiquar von Beruf, hält es mehr denn je mit der Tradition, je lokaler, um so besser, kein Wort gegen die Europäische Verteidigungsgemeinschaft, aber gerade darum ist es die verantwortungsvolle Aufgabe des Antiquars, den Sinn für die Unterschiede zu pflegen, beispielsweise für den Unterschied zwischen Basler und Zürcher, denn was sollen Europas brüderliche Heere verteidigen, wenn nicht eben dieses Vorrecht, daß wir uns auf kürzeste Entfernung unterscheiden? Es sind, wie gesagt, lauter liebenswerte Männer. Nachher frage ich mich, warum ich mich nicht wirklich als ihren Freund empfinde. Ich habe sie beleidigt, ohne etwas zu sagen. Meine Zelle wird einsamer nach jedem Besuch.
     
     
    Von Julika geträumt – wieder fast das gleiche: sie sitzt in einem Boulevard-Café unter vielen Leuten und versucht, mir zu schreiben, den Bleistift an den Lippen wie ein Schulmädchen in Not, ich will auf sie zugehen, bin aber von drei fremden (deutschen) Soldaten verhaftet, weiß, daß Julika mich verraten hat. Unsere Blicke treffen sich. Die Männer mit Helm zerren mich weiter, ich will Julika verfluchen, ihr stummer Blick bittet mich, nicht zu glauben, was sie da geschrieben habe, man habe sie gezwungen, ich habe sie gezwungen. Auf meine Frage, ob man mich erschießen werde, lachen die drei Soldaten; einer sagt: Nein, wir kreuzigen jetzt. Nach großer Angst in einem Lager beschäftigt, wir müssen Fotos an die Baumstämme heften mit Reißnägeln, das ist’s, was sie ›kreuzigen‹ nennen, nichts weiter, ich ›kreuzige‹ Julika, das Foto von der Balletteuse ...
     
     
    Es ist schwer, nicht müde zu werden gegen die Welt, gegen ihre Mehrheit, gegen ihre Überlegenheit, die ich zugeben muß. Es ist schwer, allein und ohne Zeugen zu wissen, was man in einsamer Stunde glaubt erfahren zu haben, schwer, ein Wissen zu tragen, das ich nimmer beweisen oder auch nur sagen kann. Ich weiß, daß ich nicht der verschollene Stiller bin. Und ich bin es auch nie gewesen. Ich schwöre es, auch wenn ich nicht weiß, wer ich sonst bin. Vielleicht bin ich niemand. Und wenn sie es mir schwarz auf weiß beweisen können, daß von allen Menschen, die als geboren verbucht sind, zur Zeit nur ein einziger fehlt, nämlich Stiller, und daß ich überhaupt nicht in dieser Welt bin, wenn ich mich weigere, Stiller zu sein, so weigere ich mich doch. Warum lassen sie nicht ab! Mein Verhalten ist lächerlich, ich weiß, meine Lage wird unhaltbar. Aber ich bin nicht der Mann, den sie suchen, und diese Gewißheit, meine einzige, lasse ich nicht los.
     
     
    Julika noch immer in Paris.
     
     
    Es ist ja nicht wahr: – ich kann nicht allein sein, genau genommen, und ich habe es noch kaum eine Stunde in meinem Leben gekonnt! Und meistens war da, genau genommen, ein Weib. Angefangen bei meiner lieben und guten Mutter; ich bestand meine Maturität gerade so mit knapper Not und war froh für meine Mutter, damit mein Stiefvater nicht sagen konnte: Siehst du jetzt, dein nettes Söhnchen! und später trat ich meine heimatliche Strafe an, eine eidgenössische Wolldecke unter dem Arm, und saß fast einen Sommer lang in der Kaserne, aber allein war ich nicht, denn es tat mir leid, für meine Mutter, der so etwas furchtbar war. Eine Unsumme von Stunden, mehr als ein Menschenleben je an Stunden hat, möchte man meinen, sind mir auf Abruf im Gedächtnis, Stunden, die ich für Alleinsein hielt, Abende in Hotelzimmern mit Lärm aus fremden Gassen oder Blick in einen Hof, Nächte auf Bahnhöfen irgendwo, Frühlingstage in einem öffentlichen Park voll Kinderwagen und voll Fremdsprache, dann wieder Nachmittage in gewohnter Spelunke, Wanderungen in Regen und Wald und in Gewißheit, daß ein ersehnter Mensch nie wieder zu sprechen sein würde, Abschiede von jeder Sorte, saubere und rasche und aufrechte Abschiede, aber auch erbärmliche, wimmernde, verschleppte,feige Abschiede; eine Unsumme von Stunden, sage ich, und trotzdem war ich nie allein, genau genommen, keine Stunde lang. Irgendeinen inneren Ausweg fand ich stets, eine süße oder eine

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