Stiller
vermöchte, um so reiner erschiene das Unaussprechliche, das heißt die Wirklichkeit, die den Schreiber bedrängt und bewegt. Wir haben die Sprache, um stumm zu werden. Wer schweigt, ist nicht stumm. Wer schweigt, hat nicht einmal eine Ahnung, wer er nicht ist.
Warum schreibt Julika nicht?
Freunde! – jetzt kommen sie bereits rudelweise, heute nicht weniger als fünf, und zwar gleichzeitig. Alle finden mich unverändert, beinahe unverändert, und duzen mich. Und daß ich dann kein Wort sage, hindert sie nicht im mindesten, mich zu kennen, ach ja, es geht doch nichts über eine alte Freundschaft. Einer von ihnen, ein Schauspieler, läßt meine Hand überhaupt nicht mehr los. Innerlichkeit in den Augen, und noch wenn er verstummt ist, trieft er von tiefem Verständnis für Stiller; durch einen Händedruck, durch eine weitere Verstärkung des Druckes und ein nochmaliges Schütteln meiner gequetschten Hand, die er mit seinen beiden Händen umklammert, lasse ich mir sagen, was unaussprechlich ist. Meinerseits sage ich nur: Nehmen Sie doch Platz, meine Herren! Und einer von ihnen, merke ich mit der Zeit, hält sich für meinen Gönner, weil er den verschollenen Stiller nicht wegen der jahrelang ausbleibenden Miete verklagt hat, was sein gutes Recht wäre; meine Verlegenheit, scheint es, genügt ihm als Ausdruck des Dankes. Überhaupt sind es liebenswerte Menschen,wennschon sie bei diesem Besuch, einmal versammelt, wie es unter natürlichen Umständen wohl nicht vorkommt, etwas von einer Krematoriums-Gesellschaft haben; außer ihrer Verbundenheit mit dem verschollenen Stiller, einer Verbundenheit so unterschiedlichen Ursprungs, haben sie eigentlich nichts Gemeinsames untereinander. Ein jeder hat von den andern gehört, mag sein, damals durch Stiller, der nun in empfindlicher Weise fehlt. Man müßte sich natürlich unter vier Augen kennenlernen. Einer von ihnen, merke ich mit der Zeit, ist inzwischen Professor geworden, ein feiner Kopf, der mit dem verschollenen Stiller, einem so vagen Geist und Temperament voll wirrer Radikalismen, oft genug seine liebe Mühe gehabt haben mag. Es ist ein Akt der Treue, daß er gekommen ist, dieser junge Professor, der natürlich andere Freunde hat als Stiller. Seine Vorsichtigkeit, die zärtliche Schonung, womit er mich behandelt, läßt erahnen, wie empfindlich der verschollene Stiller gewesen sein mag, und in der Tat, auch ich fühle mich als der Unterlegene, fühle das Ausmaß meiner Unkenntnis, verfalle in eine Art ängstlicher Hochachtung und damit in einen Ton, der ihn unweigerlich an den verschollenen Freund erinnern muß. Er will diesen Ton oder dieses Schweigen ängstlicher Hochachtung nicht; aber er ist daran gewöhnt, scheint es, und je befremdender mein Verhalten, um so sicherer wird er in mir den verschollenen Stiller erkennen, der ihn oft genug befremdet hat und dem er trotz allem, wohl mehr aus einem Bedürfnis nach Fairneß als nach Freundschaft, die mit Stiller nie fruchtbar wird, die Treue hält. Warum macht es mich traurig? Es wären wirklich lauter Männer, die man als Freunde haben möchte. Warum ist es nicht möglich? Übrigens sind sie durchaus uneinig, wer Stiller gewesen ist; dennoch tun sie so, als hielten sie mich für eine und dieselbe Person. Ein lebensfroher Graphiker schildert bereits das Fest, das nach meiner Haftentlassung stattfinden soll, und der fünfte, Schriftsetzer von Beruf, scheint ein Kommunist zu sein, der alle vier anderen als fertige Reaktionäre betrachtet und sie mir übelnimmt, nach seinem Blick zu schließen; vor allem verargt er mir die freundschaftlichen Töne von dem Hauseigentümer, der uns den dornröschenhaften Zustand von Stillers verlassenem Atelier schildert, und zuweilen, während sie so reden, überlege ich im Ernst, was für ein Mensch ich sein müßte, um den Erinnerungen und Erwartungen dieser fünf Besucher auch nur in großen Zügen zu entsprechen, etwas wie ein fünfköpfiges Wesen, glaube ich, wobei jeder von ihnen meine vier anderen Köpfe als unecht, als überflüssig abhauen würde, um den wahren Stiller hervorzustellen.Der Schauspieler, merke ich, ist Katholik geworden und blickt nicht ohne Achtung, nicht ohne Verständnis auf den Schriftsetzer herab, den Kommunisten, dessen Ansichten er unschwer errät, erinnern sie ihn doch an die ersten Denk-Abenteuer seiner eignen Jugend. Außer dem Kommunisten ist offenbar keiner stehengeblieben. Der junge Professor versichert mir, daß er zwar die Klassik nach
Weitere Kostenlose Bücher