Stiller
»Nein!« lachte der junge Sanatoriums-Veteran, »nicht unter der Kamelhaardecke, meine Liebe, der liebe Gott will auch etwas sehen.« Julika schwor aus der Decke hervor. »Ecco!« sagte er und fügte, eigentlich wieder in seine Zeitschrift versunken, hinzu: »– und überhaupt werden Sie sehen, Julika, auch wenn hier jemand stirbt, macht es keinen tollen Eindruck. Wer je hofft, daß er uns damit Eindruck machen könnte, stirbt vollkommen umsonst. Hier imponiert nur das Leben! Die meisten sterben übrigens so um Weihnachten herum, habe ich bemerkt, aus purer Rührseligkeit.«
(Er selbst starb im späten September.)
Im August tauchte Stiller dann doch auf, unangemeldet und überhaupt, wie Julika meint, in einer Art und Weise, die den Oberarzt noch mehr befremden mußte als sein langes Ausbleiben. Nämlich Stiller tat, als hielte man seine schöne Julika vollkommen zu Unrecht auf dieser Jugendstil-Veranda, verlangte sogleich von der Schwester, daß seine Frau mit ihm einen Spaziergang machen dürfte, eine Stunde im Minimum. Grund: Stillermußte mit Julika sprechen. Was war geschehen? Die Veranda, wo er links und rechts Ohren vermutete, schien ihm nicht der Ort zu sein, um auch nur anzufangen. Er zog gerade sein Barett ab, nicht aber seinen GI-Mantel, den er Sommer und Winter trug als eben seinen einzigen Mantel. Julika fragte:
»Wie geht es dir denn?«
Stiller war sehr unfrei, würgte sein Barett in den Händen herum, erregt, als hätte man in diesem Sanatorium nur auf ihn, der seine Julika unter vier Augen zu sprechen wünschte, Rücksicht zu nehmen. Ihre freundliche Frage nach seinem Befinden überhörte er. Vor dem Oberarzt, der kurz darauf zur üblichen Visite kam, wiederholte Stiller sogleich seine Bitte um einen Spaziergang mit Julika. Der Oberarzt war etwas überrumpelt. Sollte er denn vor der Kranken blankerdings sagen, an Spaziergänge sei nicht zu denken bei ihrem Zustand? Seit Wochen wartete ja Julika auf diese Erlaubnis. Ein Nein, klipp und klar, wie Stiller es seinerseits verdient hätte, verbot sich wohl in Anbetracht der ohnehin schon verzagten Julika. Wirklich, was sollte der Oberarzt nun sagen? Mit halber Stimme und irgendwohin gewendet, als möchte er es lieber überhört haben, bewilligte er eine halbe Stunde, seinetwegen sogar drei Viertelstunden, mußte aber Stiller ersuchen, im Korridor draußen zu warten, da er vorher noch mit Stiller sprechen möchte ...
Seit Monaten zum erstenmal verließ Julika das Sanatorium, das schon so etwas wie ihr Schneckenhaus geworden war, seltsam verdutzt, plötzlich ohne ihre Veranda zu sein. Sie fühlte sich doch schwächer als vermutet. Arm in Arm, indem Stiller sie etwas stützte, ohne sie gerade zu einer Invaliden machen zu wollen, spazierten sie langsam auf dem Pfad, den Julika so oft von ihrer Veranda aus (wenn sie sich zu diesem Zweck aufsetzte) hatte sehen können, ach, es war eine Sensation für die arme Julika, daß ihr die Tränen kamen, Tränen der Freude. Erde unter den Sohlen zu haben, einen Tannzapfen greifen zu können, Harz an den Fingern zu riechen, all dies war ein solches Glück für sie, daß Stiller es gespürt haben mochte; jedenfalls begann er nicht mit seiner Aussprache.
»Was hat dir denn unser Oberarzt gesagt?«
Stiller wollte nicht heraus damit.
»So sag doch!« bat sie.
Stiller wirkte verwirrt.
»Was er mir gesagt hat?« meinte er endlich, »ich soll dir jede Aufregungersparen. Nichts weiter. Er war sehr kurz, dein Oberarzt. Du solltest eigentlich keinen Spaziergang machen, sagt er, dein Zustand sei sehr viel ernster, als ich wohl meine.«
»So«, sagte sie.
»Ja.«
»Mir sagen sie nie etwas!«
»Ja«, fügte Stiller hinzu, um von der medizinischen Orientierung abzulenken, die man wohl vor Julika hätte verschweigen müssen, und lächelte nicht böse, nur absonderlich, nur traurig, »– und dann hat er mir natürlich gesagt, daß du ein feiner und wundervoller Mensch bist, zerbrechlich und sehr schonungsbedürftig, ein wertvoller Mensch. Alle haben das Bedürfnis mich zu unterrichten. Ich muß ein Idiot sein!«
»Aber Stiller!« lachte sie.
»Nein«, sagte er, »vielleicht bin ich es wirklich. Es ist gut, dich wieder einmal zu sehen. So leicht entstehen Gespenster, weißt du, wenn man einander nicht sieht. Jedenfalls bei mir.«
Julika wiederholte ihre Frage:
»Was machst du denn die ganze Zeit da unten?«
»Ach – so«, murmelte er.
»Hast du einmal Foxli gesehen?«
»Nein.«
»Arbeitest du immer?«
Stiller war
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