Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
Vom Netzwerk:
Verglich er sie mit der andern? Stiller wirkte sehr verliebt, fand Julika, verliebt in sie, zugleich verzweifelt. Warum denn? Julika fragte: »Was ist denn?« Plötzlich (Julika muß heute noch, wenn ihre Erinnerung dahin kommt, ein klein wenig lächeln) packte Stiller sie wie ein Tarzan, was Stiller nun, weiß Gott, nicht war, faßte ihr schmales Gesicht mit seinen etwas harten Bildhauerhänden, küßte sie mit unbegreiflicher Heftigkeit, die natürlich so ohne weiteres nicht zu erwidern war, und preßte dabei ihren damals geschwächten Körper an sich, als wollte er Julika zerquetschen. Tatsächlich tat er Julika sehr weh. Sie sagte es nicht sogleich. Warum starrte er sie so an? Eine Weile ließ sie es geschehen. Aber was sollte das denn? Julika hütete sich, zu lächeln, aber schon dies, daß sie sich hütete, merkte Stiller. »– Du?« rief er, »– du!« Er rief wirklich, als läge Julika auf der anderen Talseite. Er riß ihr den wippenden Halm aus den Zähnen, der doch nur ein Requisit ihrer begreiflichen Verlegenheit war. Julika wußte nämlich gar nicht, daß sie diesen Halm noch immer zwischen den Zähnen hatte. Warum empörte ihn denn dieser unschuldige Halm? Seine Augen fingen tatsächlich zu glänzen an, wässerig zu werden, und da er merkte, daß ihm Tränen kamen, warf Stiller seinen Kopf in ihren Schoß, klammerte sich mit beiden Armen an Julika, die plötzlich, versteht sich, die freie Landschaft vor sich sah, das Sanatorium in einiger Entfernung, das bekannte Kirchlein von Davos-Dorf, das rote Bähnlein, das gerade aus dem Wald kam und pfiff. Was konnte Julika dafür, daß sie nun all dies erblickte? Stiller schluchzte in ihrem Schoß, schluchzte wie vielleicht ein Kriegsgefangenschaftheimkehrer am Bahnhof, schluchzte, daß sie die Hitze seines Gesichtes spürte. Julika fragte sich, ob man sie vom Sanatorium aus sehen könnte. Stiller hatte Händewie Krallen, und es war Julika natürlich komisch, sogar peinlich, daß er sie am Gesäß hielt. Schließlich, da er zu schluchzen nicht aufhörte, legte sie ihre Hand auf seinen Nacken, der naß von Schweiß war, schob ihre Hand etwas weiter auf sein trockenes Haar und wartete, daß Stiller sich faßte. Er faßte sich keineswegs. Er wollte es nicht. Er versuchte sogar (lächerlich es zu sagen), in ihren Schoß zu beißen, zu beißen wie ein Hund, was aber infolge ihres starken Manchester-Rockes nicht gelang. »Komm!« sagte Julika, »– laß das.« Julika weiß heute noch nicht, was sie auf jener Promenade in Davos hätte tun sollen. Sie sah schon seit zwei Minuten zwei fremde Spaziergänger über die Promenade kommen, langsam zwar, aber sie kamen näher, und es war doch einfach peinlich, ganz abgesehen davon, daß es Julika wirklich ein wenig an Theater erinnerte, wie Stiller sich da benahm, Mortimer oder Clavigo oder so, der Richtige fiel ihr nicht gerade ein; aber peinlich war es jedenfalls, denn nun lag Stiller wie ein Toter in ihrem Manchesterschoß, schwer und reglos, ohne zu schluchzen, die Arme zur Seite gestreckt, plump wie ein befriedigter Mann. »Du!« sagte Julika sehr nett, »es kommen Leute –!« Die Leute waren schon fast auf hundert Meter herangekommen, Stiller konnte es nicht bestreiten. Mit dem etwas duseligen Gesicht eines Tauchers, wenn er wieder an die Oberfläche kommt, richtete Stiller sich auf, ohne sich umzusehen, ohne sich auch nur zu überzeugen, daß die Leute wirklich näher und näher kamen. Er legte beide Hände vor sein Gesicht, bis die Leute, zwei alte Damen, hinter ihnen vorbeigegangen waren, dann ließ er seine Hände fallen, ließ sie über seine Knie hängen und blickte ins Tal hinaus, kam sich vermutlich sehr tragisch vor; jedenfalls fiel Julika bei seinem Anblick nichts anderes ein, als ihm sein immer etwas unordentliches Haar aus der Stirn zu streichen, zu lächeln:
    »Jaja – bist ein Armer! ...«
    Zu sagen wußte Stiller nichts, er erhob sich dann nur, zog seine etwas schlampigen Hosen herauf und nahm, nachdem Julika sich ohne seine Hand hatte erheben müssen, seinen zerknüllten GI-Mantel, gab Julika den Arm, um sie zu stützen, und führte sie ins Sanatorium zurück, wo er versprach, im Korridor so lange zu warten, bis man Julika wieder eingepackt und auf ihre Veranda gerollt hätte. Das dauerte kaum zwanzig Minuten. Als aber die Schwester im Korridor nachsah, war kein Herr Stiller mehr da. Ohne Abschied war er einfach verreist ...
    Das war die vorletzte Begegnung gewesen.
     
     
    Knobel, mein Wärter, wird

Weitere Kostenlose Bücher