Stiller
Gewölken zwischen Rippen und Wirbelsäule, ja, es brodelte da bei längerem Hinsehen geradezu von Formen, alles in traumhafter Dämmerung verloren. Zum Schluß, als der Lümmel ihr eröffnete, daß sie das persönlich wäre, Frau Julika Stiller-Tschudy, von Röntgenstrahlen durchschaut, erschrak sie schon gar nicht mehr. Woher er es hatte? Gestern gestohlen, als er beim Arzt hatte warten müssen; Schabernack gehört in ein Sanatorium, fand er, die Leute nähmen sich zu ernst, vor allem im Sanatorium, aber vielleicht auch sonst. Julika mußte an Stiller denken. Solche Besuche am Fußende ihres Bettes interessierten sie natürlich mehr als Stillers pflichtbewußt-regelmäßige Briefe, die, wie Julika sehr wohl empfand, nichts durchleuchteten, im Gegenteil. Diese Briefe waren ein geschwätziges Verschweigen. Was hätte Julika darauf antworten können! Das Einziggute an diesen Briefen: Oberarzt und Schwester beruhigten sich beim äußeren Anblick solcher Briefe; nämlich sie fanden es merkwürdig, gelinde gesagt, sehr merkwürdig, daß Herr Stiller nie auf Besuch kam. Julika mußte ihn in Schutz nehmen. Mein Mann wird schon kommen! sagte sie oft. Zeit wäre es! meinte der Oberarzt, sonst werde ich dem Herrn Gemahl einmal die Züge herausschreiben, falls der Herr Gemahl vielleicht keinen Fahrplan besitzt! ... Alle hatten Frau Julika sehr gern, und tagsüber, zumal bei schönem Wetter, verging ihr die Zeit fast ohne Not. Der junge Sanatoriums-Veteran, Student aus einem katholischen Seminar, war wirklich eine Gabe des Himmels. So viel Bildung und so viel Bubenhaftigkeit zusammen, das hätte Julika nicht für möglich gehalten. Er war der gelehrteste Mensch, den Julika je gesprochen hat, und sie kam sich oft genug wie eine Analphabetin vor, anderseits wie eine reife Frau; denn er war ein Bub, wie gesagt. Und jedenfalls genoß Julika es sehr, sein Gespräch, sein Wissen, seine Bubenhaftigkeit am Fußende ihres Bettes. Fragte man ihn etwas, was er nicht wußte, machte es ihm Spaß, wie wenn man Foxli irgendwohin einen Stein oder einen Tannenzapfen wirft; nach wenigen Tagen kam er zurück und wußte Bescheid, wo und was darüber zu lesen wäre.Er gab Julika einen ersten Begriff von moderner Physik, wirklich aufregend, alles mit wissenschaftlicher Genauigkeit, wie Stiller sie nie hatte, selbst wenn er schnurstracks aus einem Vortrag kam, über die Maßen begeistert, doch unfähig, Julika auch nur den Bau eines Atoms zu erklären. Hier, zum erstenmal, verstand sie alles, fast alles. Oder Julika erfuhr, was es mit der Mutter Gottes auf sich hatte, Heiligung des Weiblichen, wovon so ein Protestant nicht die blasse Ahnung hat, alles mit überlegener Kenntnis nur so weit vorgetragen, daß auch die Kenntnislose folgen und wenigstens die entscheidenden Wendungen eines Gedankenlaufes erkennen konnte, ja, zum allerersten Mal auch, obschon ihr guter Stiller dereinst in Spanien auf kommunistischer Seite gekämpft hatte, wurde Julika sachlich und leidenschaftslos unterrichtet, was nun eigentlich die Idee des Kommunismus ist, was dabei von Hegel stammt, was dabei ein Mißverständnis von Hegel ist, was man unter Dialektik versteht, was am Kommunismus durchaus christlich, was antichristlich ist, Säkularisierung, Transzendenz, es schien einfach nichts zu geben, was dieser junge Jesuit mit seinem schmalen Gesicht und mit den etwas totenkopfhaften Augengruben darin nicht mit Leichtigkeit denken und in einer knappen, ungeschwätzigen, unleidenschaftlichen Weise vorzutragen vermochte, die amüsant war, so daß Julika oft lachen mußte, gleichviel ob es nun gerade um die Mutter Gottes oder um die absolute Lichtgeschwindigkeit ging, und die (die unleidenschaftliche Weise seines Vortrags) nie eine Anschauung aufzudrängen schien. Julika genoß es auch hier, einmal nichts zu müssen. Stiller drängte immer etwas auf, Ansichten, die er später selbst widerlegte; in Zeiten aber, wo sie ihn begeisterten, pflegte er sie vorzutragen, daß Julika nicht zu widersprechen wagte. Ganz anders dieser junge Katholik! Es drängte Julika gar nicht, zu widersprechen. Sie lag in ihrer Veranda, sog es in sich hinein wie die Luft des nahen Waldes. Von diesem täglichen Besucher, scheint es, hörte Julika nebenbei auch den nicht unbekannten Gedanken, daß es das Zeichen der Nicht-Liebe sei, also Sünde, sich von seinem Nächsten oder überhaupt von einem Menschen ein fertiges Bildnis zu machen, zu sagen: So und so bist du, und fertig! ein Gedanke, der die schöne
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