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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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nicht gerade unterhaltsam.
    »Ja –«, wiederholte er, »das ist eigentlich alles, was er mir zu sagen hatte. Daß du ein vornehmes Wesen bist und es verdienen würdest, von einem Mann auf Händen getragen zu werden. Und jedenfalls müßten wir vermeiden, daß du dich irgendwie aufregst. Es schadet dir nur, und dein Zustand sei ziemlich ernst. Julika, das hat er mir dreimal gesagt, glaube ich.«
    So, Arm in Arm, wie Julika und Stiller eigentlich selten gingen, dabei schweigsam auf eine Art, als wäre alles Wesentliche bereits gesagt, als ginge es nur noch darum, entzückt zu sein von diesem wolkenlosen Augusttag und von der berühmten Luft, gingen sie auf jener klassischen Promenade mit Tannzapfen und fast zudringlichen Eichhörnchen, die mein Verteidiger und Julika mir neulich gezeigt haben, wirklich eine sehr hübsche Promenade, bald Wald, bald Wiese. Unten in der Stadt war es fürchterlich, immerfort schwül wie vor einem Gewitter, aber es kam einfach nie, dieses Gewitter, und es blieb heiß, daß man schwitzte, hier oben schwitzte mangar nicht. Stiller genoß es. Und die Wiesen dufteten. Indessen kamen sie nicht sehr weit, der armen Julika wegen. Stiller zog seinen braunen GI-Mantel aus, wirklich ein praktisches Ding, und sie setzten sich auf einen trockenen und weichen, von der Sonne warmen Tannennadelboden. Es war einfach herrlich. Wozu reden! dachte Julika. Und sie redeten denn auch kaum. Irgend etwas zu reden, bevor das Eigentliche gesagt war, erwies sich als unmöglich. Endlich fragte Julika: »Was ist es denn? Du wolltest mit mir sprechen –« Irgendwo aus der mittäglichen Bläue grollte ein unsichtbarer Steinschlag. Insekten summten. Die Berge schwiegen silbergrau. Julika wartete indessen vergeblich, daß Stiller nun etwas sagte. Stiller verbröckelte rote Erde zwischen den Fingern, bis Julika ihn, weiß Gott nicht aus Kleinlichkeit, sondern nur um etwas zu plaudern, auf seine etwas langen, durch diese Erde schmutzigen Fingernägel aufmerksam machte, eine ganz und gar arglose Bemerkung, die der gute Stiller, diese männliche Mimose, wieder sehr krumm nahm, ohne es zu sagen (es kam erst später einmal in einem Brief). Jetzt ließ er bloß die zerkrümelte Erde fallen, wortlos, schlug sich die Hände und nahm einen dürren Zweig vom Boden, putzte sich die Fingernägel, was Julika nicht eben verlangt hatte. Seltsam dabei eine unvermittelte Frage: »Hast du mich eigentlich je geliebt?« Was sollte Julika nun darauf wieder antworten können! Doch Stiller, Fingernagel um Fingernagel putzend, beharrte auf seiner komischen, für Julika ganz aus der Luft gegriffenen Frage. »Was hat das mit deinen schmutzigen Fingernägeln zu tun?« fragte sie einigermaßen spaßig, sah seine Lippen, die vor Erregung zitterten, »– bist du hierhergekommen, um mich das zu fragen?« Dieser Ton, fanden beide, war nicht glücklich, nicht verheißungsvoll, nicht der Pracht des stillen Waldes angemessen. Was es für die arme Julika bedeutete, diesen ihren Wald einmal anders als von der Veranda her zu sehen, überhaupt einmal außerhalb ihrer Jugendstil-Verglasung zu sein, Wiesenblumen nicht nur von ihrem jungen Jesuiten zu empfangen, sondern eigenhändig rupfen zu können, ihr fast schon vergessenes Straßenkleid wieder zu tragen und nicht in Kamelhaardecken eingewickelt zu sein, all dies schien Stiller nicht ganz ermessen zu können. Eine halbe Stunde war bereits vergangen. Stiller rauchte, nicht ohne ihre Erlaubnis erfragt zu haben, und Julika zog Halme durch die Zähne.
    »Wie geht es deiner – Dame?« fragte sie.
    »Wen meinst du?« fragte er.
    »Bist du noch immer verliebt in sie?«
    In der Tat, Julika machte es ihm so leicht wie möglich, doch Stiller war ein fertiger Feigling; kein Wort davon, daß er die Dame (wie sich später einmal herausstellen sollte) fast täglich traf. Er blickte Julika bloß an, schwieg. Was erwartete er nur immer von ihr? Julika lag nun im warmen Gras, müde von dem kleinen Spaziergang, verständlicherweise müde, trotzdem auf den rechten Ellenbogen gestützt, um mehr Ausblick zu haben, einen langen wippenden Halm zwischen den Lippen. Sie spürte, wie Stiller sie musterte, ihr rotes Haar, ihre zarte Nase, ihre damals sonnenbraune Haut (ihre gewöhnliche Alabasterblässe steht Julika wahrscheinlich besser) und ihre Lippen ohne Rouge, ihren Busen auch, überhaupt ihren ganzen Körper, der schließlich der Körper einer Balletteuse war; Stiller musterte sie, als hätte er noch nie ein Weib gesehen.

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