Stiller
Mann, wobei von Vorwürfen nicht die Rede war. Es genügte der Satz: »Ich glaube, Stiller, Sie tun Ihrer Frau sehr unrecht.« Stiller antwortete: »Sicher!« Sein Ton war pure Fopperei. »Was haben Sie anderes erwartet?« sagte er. »Haben Sie gesehen, daß ich jemals etwas anderes getan habe als Unrecht?« Der Veterinär versuchte alles, doch Stiller ließ ihn einfach stehen, putzte sein Spachtel und sagte Adieu, ohne den Besucher an die Türe zu begleiten. Es war wirklich eine Art von Verfolgungswahn, wie er Leute, sobald sie Julika als Freunde begegneten, für seine insgeheimen Feinde hielt. Was sollte Julika bloß tun! Stiller tat ihr leid. Er machte sich nur selber einsam. Was hatte Julika nicht alles versucht! Sie nahm es noch mit Humor, wenn Stiller sich darin gefiel, der unverstandene Mann zu sein, und oft, wenn er so brütete, untätig wie ein Lahmer und verstockt und schweigsam, daß man vor Langeweile hätte sterben können, menschenscheu, lustlos, gleichgültig, willenlos und alles andere als ein Mann, der eine Frau hätte glücklich machen können, legte Julika ihre Hand kurz auf seine Schulter und lächelte:
»Jaja – bist ein Armer! ...«
– – –
Ihr Sommer in Davos, ihr Leben in jener Jugendstil-Veranda, wo manHeu roch und Eichhörnchen sah, war sicher nicht leicht. Es ging Julika wie scheinbar den meisten Neulingen dort oben: nach einem allerersten Entsetzen, nach zwei oder drei Nächten, wo sie sofort auszubrechen beschlossen hatte, und nach dem grauslichen Gefühl, als wäre es jedesmal eine Vorbereitung zum Sterben, wenn man sie in ihre Wolldecken wickelte und auf die immergleiche Veranda rollte, gewöhnte sich Julika unversehens an diesen anderen Alltag, ja, sie genoß es sogar, einmal nichts mehr zu müssen, überhaupt nichts. Ruhe war das einzige, was von ihr verlangt wurde. Julika genoß es wie schon lange nicht mehr, auf dieser Welt zu sein. Es war gar nicht so fürchterlich, dieses Davos, es war ein Tal, wie Täler halt sind, grün, friedlich, etwas langweilig vielleicht, ein Tal mit steilen Wäldern und flachen Matten, da und dort mit einer steinigen Runse, eine Landschaft, nichts weiter. Der Tod ging nicht als knöcherner Sensenmann umher, nein, da wurde nur Gras gemäht, Heu duftete herauf, Harz herüber vom nahen Wald, irgendwo verzettelten sie Mist, und in den Lärchen vor ihrer Veranda turnte ein neckisches Eichhörnchen. Tagsüber, mag sein, lebte es sich wie in den Ferien. Ein Nachbar, der sich täglich eine Viertelstunde auf das Fußende ihres Bettes setzte, ein Geretteter, der spazieren durfte und Wiesenblumen brachte, übrigens ein ziemlich junger Mensch, jünger als Julika, aber Sanatoriums-Veteran, der sich der Neulinge auf die netteste Weise etwas annahm, scheint Julika viel erleichtert zu haben. Er war es, der ihr Bücher brachte, andere als Stiller jemals gebracht hatte, eine neue Welt also. Und was für eine Welt! Julika las Plato, Tod des Sokrates, schwierig, jedoch der junge Sanatoriums-Veteran half ohne eine Spur von Lehrerhaftigkeit, munter-beiläufig wie eben jene Leute, die ihrerseits eine ungewöhnlich leichte Auffassung haben und nie vermuten, man könnte etwas nicht verstehen, weil unser Kopf nicht reicht. Er war bezaubernd mit seinem schmalen, immer etwas pfiffigen Gesicht und den großen Augen darin, dabei waren sie keineswegs ineinander verliebt. Julika ihrerseits erzählte vermutlich vom Ballett, und der junge Sanatoriums-Veteran, der die Anzüge von Verstorbenen trug, erzählte ein wenig von all den Menschen, die Julika ab und zu husten hörte, ohne sie je zu Gesicht zu bekommen, keine Lebensgeschichten, nur so Schnurren, keine Indiskretionen; Julika war froh darum, anfangs durch seinen ›frivolen‹ Ton befremdet, bis sie wohl merkte, daß spitzer Witz nicht Innerlichkeit ausschließt, sondern lediglich eine andere Form davon ist, eine unklebrige und keuschere Art vielleicht. Kurzum, Julika freute sich auf diese Viertelstunden, vermißteden jungen Sanatoriums-Veteran schon empfindlich, als er einmal ausblieb. Was war denn los? Gar nichts; Besuch seiner Familie, nichts weiter. Am andern Tag kam er wieder, erläuterte Julika so ein Röntgen-Foto. Sein eigenes? Darüber schwieg er sich aus, zeigte, was man einen ›Schatten‹ nennt, und brachte Julika langsam dazu, so ein Gerippe sogar schön zu finden, anzuschauen wie eine Graphik, entzückt zu sein etwa von der Transparenz des Herzens, das nicht zu sehen war, fasziniert von den geheimnisvollen
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