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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Julika unmittelbar angesprochen haben mußte. War es nicht so, daß Stiller, ihr Mann, sich ein Bildnis von Julika machte? ... Kurz und gut, Julika langweilte sich nicht, und solange sie ins Tageslicht blickte, ob Sonne oder Regen, trug sie ihr Kranksein beinahe ohne Not.
    Anders wohl waren ihre Nächte.
    Julika redet kaum davon, immerhin kommt zum Vorschein, daß zuweilen am Morgen, wenn die Schwester ins Zimmer trat, das Licht noch brannte und eine gänzlich erschöpfte, in kaltem Schweiß gebadete, in einem durch und durch zerwühlten Bett eingeschlummerte Julika gefunden wurde. Ihre Fieberkurve verriet deutlich genug, wie wenig die arme Julika nach der frommen Mahnung lebte, sich unter keinen Umständen aufzuregen. Der etwas doofen Schwester gegenüber, die Julika wusch und frisches Bettzeug holte, Heizkissen und Tee vor der Zeit, bestritt Julika alles, nur damit ihr erster Spaziergang, seit Wochen versprochen, nicht wieder und wieder und wieder verschoben würde. In solchen grauenvollen Nächten, mag sein, sah Julika zuweilen ihren Stiller in jener unvergeßlichen Haltung, wie er die Gläser vom Vorabend trocknet, die Haarspange seiner vorabendlichen Besucherin in die Hosentasche steckt, damit Julika nicht weiter daran Anstoß nehme, und wie er auf die Nachricht, daß Julika auf den Tod erkrankt sei, nur sein Glas vom Vorabend an die Wand schmettert, nichts weiter ...
    Jetzt schrieb Stiller auch keine Briefe mehr.
    Man fragt sich natürlich, ob niemand diesen Stiller (wenn die arme Julika es schon nicht selber schreiben konnte) einmal unter vier Augen unterrichtete, was seine Frau, immerhin seine Frau, die er ja trotz der anderen wenigstens noch so weit liebte, daß er von ihr vermißt sein wollte, dort oben in Davos durchzumachen hatte. Aber eben, Stiller war ja nicht bereit, sich unter vier Augen unterrichten zu lassen; die paar Bekannten, die es einmal versucht hatten, gaben es natürlich auf, und die neuen Bekannten, die Stiller nun haben mochte, ahnten von Julikas grauenvollen Nächten so wenig wie er selbst ... Wer überhaupt wußte davon? Die arme Julika offenbarte sich niemandem. Einer wußte dennoch darum, scheint es, und zwar der junge Sanatoriums-Veteran. Und auch darüber redete er so heiterleicht wie über seine Kirchenväter, wie über die absolute Lichtgeschwindigkeit (die nicht zu verdoppeln ist, wenn zwei Lichtstrahlen einander entgegensausen) und über das klassische Gesetz von der Addition und Subtraktion der Geschwindigkeit, das eben beim Licht nicht gilt, und wie über Buddhismus. Wieder saß er, voll solcher Wissenschaft, am Fußende ihres Bettes, wo die erschöpfte Julika ihn anzuhören sich bemühte, und hatte eben in einer Zeitschrift einen Satz von Professor Scherrer, Zürich, gelesen, der ihn entzückte, nämlich: Masse ist Energie auf Sperrkonto. »Ist das nicht witzig?« fragte er. »Ja«, sagte Julika. »So ist es!« fuhr er dannohne irgendeine Verwandlung seines Tones fort, noch immer in seiner Zeitschrift blätternd, »– tagsüber spielt man Schach und liest, in der Nacht wird geweint, Sie sind nicht die einzige im Haus, Julika, das müssen Sie nie glauben. Es geht hier allen so. Am Anfang, so die ersten Wochen oder Monate, ist man baff, wie hübsch es hier ist, Heu und Harz und Eichhörnchen und dergleichen, und dann kommt das Grauen halt doch. Man heult in seine Kissen und weiß nicht recht warum, es schadet ja nur, man weiß bloß, daß unser fiebriger Körper wie Zunder verfallen wird. Und dann, früher oder später, denken hier alle an Ausbruch. Vor allem in der Nacht, wenn man allein ist; da wuchern bei uns die verrücktesten Pläne, jeder wird sein eigener Napoleon, sein eigener Hitler, keiner kommt nach Rußland, und unsereiner kommt nicht einmal ins Tiefland hinunter, Julika, vier Stunden mit dem Bähnchen, umsteigen in Landquart, eine Bagatelle. Einige versuchen es auch jedes Jahr, packen insgeheim ihre Zahnbürste ein, sagen der Schwester, sie müßten auf die Toilette, und fahren mit dem Bähnchen zu Tal, kommen so oder so weit, je nach Glück, je nach Wetter, haben ihren Zusammenbruch, daß sie zu ersticken glauben, und kehren wortlos mit dem Krankenwagen wieder hierher. So what?« lächelte er. »Wir haben nicht einmal Mitleid mit ihnen, wissen Sie, es ist zu dumm. Erprobtermaßen. Unsere Kameradschaft beschränkt sich darauf, zu tun, als hätten wir nichts davon vernommen. Schwören Sie es mir, Julika, daß Sie diesen Unsinn nie machen werden?« Julika schwor.

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