Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
Vom Netzwerk:
eine Last. Wie ein Zeitungsleser wartet er auf die täglichen Fortsetzungen meiner Lebensgeschichte, wobei mir sein Gedächtnis zu schaffen macht.
    »Entschuldigen Sie, Mister White, das kann nicht stimmen. Also zuerst haben Sie doch Ihre Frau ermordet –«
    »Ja.«
    »Dann Direktor Schmitz –«
    »Ja.«
    »Das war im Dschungel, haben Sie gesagt, auf Jamaika. Und dann kam der Mann von der kleinen Mulattin, worauf Sie nach Mexiko flohen – und dann?« fragt er mit dem Suppeneimer in der Hand, »von Mexiko kamen Sie hierher.«
    »Ja.«
    »Aber wo bleiben denn Ihre beiden anderen Morde? Sie sprachen von fünf Morden.«
    Ich löffle meine Suppe und sage:
    »Vielleicht waren es nur drei.«
    »Spaß beiseite«, sagt Knobel und hat in diesem Punkt, wie sich zeigt, überhaupt keinen Humor; er wird eine Last ... Ich sage dann lediglich:
    »Es gibt allerlei Arten, einen Menschen zu morden oder wenigstens seine Seele, und das merkt keine Polizei der Welt. Dazu genügt ein Wort, eine Offenheit im rechten Augenblick. Dazu genügt ein Lächeln. Ich möchte den Menschen sehen, der nicht durch Lächeln umzubringen ist oder durch Schweigen. Alle diese Morde, versteht sich, vollziehen sich langsam. Haben Sie sich nie überlegt, mein guter Knobel, warum die allermeisten Leute so viel Interesse haben an einem richtigen Mord, an einem sichtbaren und nachweisbaren Mord? Das ist doch ganz klar: weil wir für gewöhnlich unsere täglichen Morde nicht sehen. Da ist es doch eine Erleichterung, wenn es einmal knallt, wenn Blut rinnt oder wenn einer an richtigem Gift verendet, nicht bloß am Schweigen seiner Frau. Das ist ja das Großartige an früheren Zeitaltern, beispielsweise an der Renaissance, daß die menschlichen Charaktere sich noch in Handlung offenbarten; heutzutage ist alles verinnerlicht – und um so einen innerlichen Mord zu berichten, mein guter Knobel, dazu braucht man Zeit, viel Zeit!«
    »Wieviel?« fragt er.
    »Stunden und Tage.«
    Darauf sagt mein Wärter:
    »Mister White, nächsten Sonntag habe ich frei.«
     
     
    Julika wußte also, trotz seines Schweigens, um Stillers sommerliches Verhältnis mit einer andern. Verhältnis ist nicht gerade ein holdes Wort, mag sein, doch wieso sollte Julika (wenn sie daran dachte) romantische Umschreibungen suchen? Sie wußte also darum. Was konnte sie, die Kranke in ihrer gläsernen Veranda, dagegen tun? Überhaupt nichts.
    Nichts als dulden, dulden, dulden ...
    Jetzt erst recht, so dachte die arme Julika zuweilen, gab es für sie nur die Kunst, und sie betrachtete neuerdings die Titelseite einer schweizerischen Illustrierten (Freunde hatten sie eben geschickt) mit der schönen Julika darauf, der Tänzerin. Julika ganz allein! Es soll eine tolle Aufnahme gewesen sein, die fast an Degas erinnerte mit dem flirrenden Lichtzauber in dem Gazeröcklein der Balletteuse, übrigens eine Aufnahme vom vergangenen Winter; Julika hatte gar nicht mehr geglaubt, daß das Bild, seinerzeit mit so viel Schererei aufgenommen, je noch erscheinen würde. Jetzt aber, Ende August, erschien es sinnigerweise zur Eröffnung der neuen Spielzeit. Das Bild: man sah Julika von rückwärts, das linke Bein angeschwungen, ihr Gesicht im lichten Profil; die flüssige und dennoch bestimmte Haltung ihrer Arme, die gleichsam aufknospenden Hände daraus, alles war einwandfrei. Der Text darunter: in der üblichen Weise etwas blöd, aber wenigstens nicht grundfalsch, was für dieses Blatt, wie Julika fand, schon viel war. Übrigens gar kein unwichtiges Blatt; Julika erschauerte leicht bei Kenntnisnahme der Auflage. So viele Juliken gab es nun, Julika am Kiosk, Julika in der Eisenbahn, Julika im trauten Heim, Julika im Kaffeehaus, Julika in der Manteltasche eleganter Herren, Julika neben dem Suppenteller, Julika überall, Julika irgendwo in einem Zelt am Strand, Julika in den Hallen jedes besseren Hotels, vor allem aber am Kiosk, an allen Kiosken dieses Landes, teilweise auch im Ausland, eine ganze Woche lang; dann, später einmal, Julika im Wartezimmer der Zahnärzte, aber auch in der Public Library in Neuyork, jederzeit zu verlangen, und Julika da und dort in einem einsamen Zimmer über dem Bett. Nicht stolz war Julika, ach nein, aber verdutzt, sooft sie dieses etwas billige Papier zur Hand nahm, vor allem jedoch froh, daß es wenigstens eine tolle Aufnahme war, sie selber in tänzerischer Hinsicht durchaus tadellos. Daß sie schön war,sehr schön sogar, entging Julika nicht. Wann, ja wann würde sie jemals wieder tanzen

Weitere Kostenlose Bücher