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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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stets als einen Ersatz betrachtet hatte? Julika glaubte es nicht, auch jetzt nicht. Es würde wiederkommen, wußte sie. Aber jetzt, danke schön, wollte sie keine Ballettmusik hören, lieber alles andere, was der junge Jesuit an Platten hatte auftreiben können. Auch in der Musik wußte er Bescheid! Julika beschäftigte es aber doch, diese innere Entfernung vom Ballett. Kam sie etwa aus der menschlichen Enttäuschung, die Julika in jenem Sommer hatte erleben müssen, betreffend die Menschen vom Theater? Nämlich nicht einer besuchte sie in ihrem Veranda-Gefängnis dort oben. Noch vor einem halben Jahr, kaum zu glauben, verrissen sie ihre überschwenglichen Arme, um Julika zu begrüßen, lauter Freunde, die mit überströmendem Herzen schon auf zehn Meter nicht laut genug rufen konnten: Julika,meine Süße, wie geht es denn? Dabei hatte man sich am Vormittag schon gesehen. Ein wunderliches Volk, in der Tat; Stiller hatte nie viel mit ihnen anfangen können. Aber Stiller war ungerecht. Man durfte diese Leute nicht an ihrer menschlichen Treue messen; ihre Herzlichkeit beschränkt sich auf den augenblicklichen Überschwang. Sie liebten doch Julika wirklich, alle, die Damen vom Ballett vielleicht weniger, da sie neidisch waren schon auf Julikas unvergleichliches Haar, aber die Herren eigentlich alle, auch Sänger, sogar vereinzelte Herren von der Direktion, dann die namhaften Dirigenten, die Julika oft in ihrer stickigen und menschenunwürdigen Garderobe aufsuchten, ihr die Hand küßten, einen wackligen Sessel nahmen und ihr eine Karriere im Ausland prophezeiten, nun, wo blieben sie alle? Einmal kam noch eine Karte, Gruß einer höchst fröhlichen Gesellschaft nach einer Premiere, die auch ohne Julika ein nie dagewesener Erfolg gewesen ist, ein paar Zeilen drauf, die kurz und bündig versicherten, daß man Julika arg vermißte, eine Scherzkarte übrigens, unterschrieben mit Namen ohne Zahl und Wahl, lauter Freunde. Und dann, gewiß, kamen ja auch ein paar Brieflein, nett, während einer Probe geschrieben, also kurz und abgebrochen, Klatsch über Kollegen, alles sehr nett. Und kein Zweifel, hätte Julika sich aus ihrer Decke hüllen und hingehen können, es wäre ein aufrichtiger Jubel von Garderobe zu Garderobe gelaufen, Julika wäre mit Küssen überschüttet worden, umarmt wie ein Tour-de-Suisse-Sieger am Ziel, allerseits begrüßt mit Händedruck ohne Ende und mit einem tiefen Blick in die Augen, ja, da und dort mit einem herzhaft-erschütterten Wort: Das ist jetzt nicht Kitsch, was ich dir sage, weißt du, man sagt das so, aber ich meine es wirklich, Julika, ich habe dich vermißt, all diese Monate, eine Kollegin wie du, Julika, nun ja, ich will jetzt nicht sentimental werden, aber ich habe oft gedacht, weißt du, die Zeiten mit unserer Julika, nun liegt dieses Kind da oben, Herrgott nochmal, ich habe oft an dich gedacht, das kannst du mir glauben, ein Kerl wie du, weißt du, aber das muß ich dir ja nicht sagen, Herrgott nochmal, daß du wieder da bist! Und dann nochmals ein Kuß, eine Umarmung wie zwischen Orest und Elektra. Und Julika hätte alles geglaubt, gewiß, und mit Recht. Stiller hat diese Menschen nie verstanden. Stiller war im Grunde immer ein Bürger, Spanienkrieg hin oder her. Man kann mit den Menschen vom Theater nur auskommen, wenn man mit ihnen arbeitet und solange man mit ihnen arbeitet, dann ist man ein Herz und eine Seele, ja, dann gibt es Augenblicke von Urchristentum, wie es nur hinter den Kulissen anzutreffen ist etwa vor einerPremiere, man wähnt sich eine Gemeinschaft auf Ewigkeit, jeder ist dann so bloß. Es hätte gar keiner Tuberkulose gebraucht, um von diesen so herzlichen Menschen in einem Vierteljahr vergessen zu sein; es genügt, daß man einige Zeit nicht tanzt, eines schönen Morgens vielleicht mit anderen Interessen käme, mit Kirchenvätern beispielsweise oder mit absoluter Lichtgeschwindigkeit, es genügt, ihre nächste Premiere nicht für das Ereignis unserer Menschheit zu halten, und schon steht man abseits, oh, man würde nicht aus ihrer Garderobe geworfen, gewiß nicht, denn es sind fast lauter nette Menschen, wenn sie nicht gerade die Nerven verlieren, aber Menschen ohne Interesse für Menschen, die nicht vom Theater reden, man könnte ihnen melden, man habe keine Lunge mehr, überhaupt keine, und sie würden scheinbar zuhören, stumm geschäftig, indem sie in ihren Spiegel schauen und sich die Schminke aus den Augenhöhlen wischen, und zum Schluß, indem sie die

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