Stiller
können? Sie legte sich zurück mit geschlossenen Lidern, versuchte sich auszumalen, wie sie, jene Julika mit dem Degas-Röcklein, in die beschienene Fläche der leeren Bühne tritt, umringt von Finsternis mit dem wirbelnden Staub in den bläulichen Lichtfluten der Scheinwerfer, die sie, Julika, gleichsam über alle Erdenschwere tragen, von allen menschlichen Zudringlichkeiten entrücken, und dann, ach ja, und dann, wenn der erste Vorhang sich zur Seite gezischelt hat, Julika schon auf den Fußspitzen, und wenn der zweite Vorhang, der schwere, seine acht Sekunden lang gerauscht hat, um das Tor zu öffnen, das Tor nach jener anderen Finsternis voll erhellter Gesichter in den vorderen Rängen, und dann, wenn das Orchester, lange schon spielend, wie eine Brandung zu ihren Füßen tönt, jetzt in voller Stärke seines Klanges, ach, wie ein Bannkreis ist diese Musik, ein Bannkreis um Julika, die alle nur sehen, doch nicht ergreifen können, und dann, wie die Lampen in der Rampe erglühen, die Lampen auch oben in der sogenannten Brücke, wie sie Julika blenden, so daß sie nichts von dieser Welt mehr erkennt, nur ihren Raum fühlt, ihren wartenden Raum, fühlt, was sie sonst nirgends fühlt, Wonne, eine unsägliche Wonne, daß sie schlucken muß vor Bangnis, und dann, wie sie den Kopf wendet (genau wie auf jener Titelseite) und weiß, daß jetzt der Glanz ihrer Augen noch auf der obersten Galerie gesehen wird, und dann, ja, dann ihre ersten Schritte, so, als wäre nun alle Musik nur noch in ihrem Körper, die emsigen Streicher, denen vor Streichen das Haar ins Gesicht baumelt, die Bläser mit ihren Puttchen-Wangen, der berühmte Dirigent mit den Krähenschwänzen seines Frackes und mit dem Blick auf Julika, nur auf Julika, die wackeren Burschen an den Baßgeigen, die jetzt wie die Waldarbeiter sägen, der Nette am Schlagzeug, der, ein Nervenbündel voll gehorsamer Aufmerksamkeit, endlich zu seinem Ticktack kommt, du lieber Himmel, sie alle machen Töne, dieses Gewoge von Themen, dieses Gebrause, das wieder verebbt, aber die Musik ist in Julika, in ihrem Körper wohnt sie, aus ihrem Körper wird sie geboren: leibhaftig, sichtbar. Und doch: über die ersten Schritte kam Julika in ihrer Vorstellung eigentlich nie hinaus. Merkwürdig! Ein Eichhörnchen auf der Lärche vor ihrer Veranda, nur ein Eichhörnchen, das die leeren Zapfen fallen ließ, ein fast unmerkliches Geräusch also, oder der bekannte Pfiff des Bähnchens unten im Tal, einmal auch das Geächz eines bäurischen Karrens, der mit angezogenen Bremsen einen steilen Weg hinunterfuhr, oder auch nur ein Hüsteln inder unteren Veranda, das pralle Lachen eines Bäckerburschen, der eben die frischen Brötchen gebracht und sich wieder auf sein Velo geschwungen hatte, um dann mit einem gepfiffenen Schlager in den Wald zu entschwinden, irgend etwas genügte, um Julika zu unterbrechen in ihrer Vorstellung von Ballett. Bei allem Übermaß an Muße, von keiner anderen Aufgabe verhindert, ihre berauschende Vorstellung von vorne anzusetzen und nochmals mit den bläulichen Lichtfluten der Scheinwerfer zu beginnen, nie kam Julika, wie gesagt, über die ersten Schritte hinaus, unbegreiflicherweise. Dabei kannte sie natürlich eine ganze Reihe von Balletten auswendig, Schritt um Schritt. Vergeblich nahm sie nochmals die blöde Illustrierte zu Hilfe, betroffen von der Unwahrscheinlichkeit, dieses schwerelose Geschöpf zu sein, ein Geschöpf, das Julika, wäre es nicht ein papiernes Bild gewesen, hätte umarmen mögen, umschlingen, wie der gute Stiller sie neulich umschlungen hat. Tränen flossen ihr, die ihr, da Julika sie auf die Unterbrechung ihrer Karriere bezog, mit Recht etwas kitschig schmeckten. Heimweh nach Musik überkam sie immer öfter. Als es dann schließlich und endlich erlaubt war und klang, das kleine Wunderkistchen aus schwarzem Bakelit, das ihr der junge Jesuit beschafft hatte, und als sie selbander die erwünschte Musik hörten, leise natürlich, immerhin klar und ziemlich sauber im Ton, Musik, die Julika so und so viele Male getanzt hatte, siehe da, es blieb Musik, und sie hörte ebenso gerne, was für ein Ballett nie in Frage kommen würde. Ganz einfach: Tanzen war für Julika plötzlich, selbst wenn sie es sich noch lange nicht zugeben mochte, wie ein Spiel aus vergangenem Lebensalter, köstlich, doch für sie nicht mehr möglich, von innen heraus nicht mehr möglich. Es erschreckte sie. Hatte Stiller denn recht, der, etwas neidisch auf ihren Erfolg, ihre Tanzerei
Weitere Kostenlose Bücher