Stiller
nicht zu finden war, noch vor Abfahrt seines unbestreitbar unter Dampf stehenden Schiffes verkauft werden mußte; denn es hatte doch keinen Sinn, diesen herrlichen Kleiderstoff wieder mit nach Amerika zu nehmen. Rolf hatte kein Interesse. Um den Kerl loszuwerden und zu seinem Wein zu kommen, winkte er einem Passanten, einem jüngeren und in keiner Weise auffälligen Genueser, der vielleicht die gefragte Gasse kannte oder Kleiderstoff brauchen konnte. Und damit basta! Nur: der Genueser, sichtlich ungehalten über die Verzögerung seines zielstrebigen Ganges, verstand nicht Amerikanisch, der Matrose nicht Italienisch. Rolf mußte dolmetschen. Es paßte ihm gar nicht; dazu war er ja nicht die ganze Nacht hindurch nach Genua gefahren, und der Verdacht, in eine abgekartete Gaunerei verwickelt zu werden, kam ihm natürlich auch. Aber worin sollte sie bestehen? Auch genügte sein Italienisch so wenig wie sein Amerikanisch, und daß die beiden, nachdem der junge Genueser so wenig nach Kleiderstoff verlangte wie Rolf und überhaupt nur widerwillig bei der Sache stehenblieb, jemals zu einem Handel kämen, war nicht abzusehen. Rolf hatte sich zweimal schon entfernt, wurde aber von dem aufgeregten Matrosen, der ohne Dolmetscher einfach verloren war, wieder geholt; nach viel Gefeilsch (Rolf hatte in dieser Zeit wenigstens seine Gattin vergessen) führte sie der Genueser mit einem Augenzwinkern,womit man seine Bereitschaft zu ungesetzlichem Handeln bekundet, durch immer engere Gassen mit Treppen und Kindern, durch krumme Schluchten voll bunter Wäsche und Geschrei, bis er im Dämmer eines Hausdurchganges bereit war, den käuflichen Stoff zu besichtigen. Rolf rauchte eine Zigarette, für eine Weile als Dolmetscher überflüssig; alles vollzog sich ganz stumm. Der Genueser, schon durch seine schnöde Überlegenheit unsympathischer als der Matrose, der immer wieder auf seine Uhr schauen mußte, zog zwei oder drei Fäden aus dem Paket, leckte sie an und hielt sie gegen das schwache Licht schattiger Hinterhöfe. Wolle, sagte er, wäre es also nicht! Jedenfalls nicht reine Wolle, fünfzig zu fünfzig, mag sein. Rolf dolmetschte wie immer mit einiger Schonung. Also dreißigtausend Lire, letztes Wort! Wie es endlich ans Zahlen ging, hatte der Genueser leider nur zehntausend Lire, das übrige natürlich zu Hause, der Matrose hingegen keine Zeit mehr zu warten. Was nun? Vielleicht konnte der Dolmetscher aushelfen. Das war natürlich der Punkt, Rolf wußte es bei aller Zerstreutheit und griff in seine nicht eben sonderlich gefüllte Brieftasche, allem Mißtrauen zum Trotz, nicht aus Erbarmen mit dem angeblichen Matrosen, sondern (so sagt er) aus einer bloßen Angst, spießig zu werden. Der Matrose, halb dankbar und halb wütend, wie weit die Erpresser es gebracht hatten, büschelte die dreißigtausend Lire zusammen, davon zwanzigtausend von Rolf, grüßte kurz und lief. Es war halb zwei! Gegenüber Rolf entpuppte sich übrigens der Genueser, wie widerlich er auch gegenüber dem Matrosen gewesen war, als Gentleman; er wollte das Paket nicht an sich nehmen, sondern Rolf sollte es tragen, bis er die Lire hätte. Als Pfand, er spürte schon das Mißtrauen. Und wieder ging es durch Gassen der Armut, Rolf mit dem verschnürten Paket unter dem Arm, bis der Genueser, auf dem ganzen Weg wie aus Gekränktheit schweigsam, endlich sagte: »Mia casa, attenda qui, vengo subito!« Rolf sah ein Portal von verlotterter Renaissance, hatte keine Ahnung, wo er sich nun befand; irgendwo in Genua. Im nahen Hafen tutete ein Schiff mit klanglosem Dröhnen. Vielleicht war es doch kein Schwindel. Die mittägliche Sommerhitze selbst in dieser Schattengasse mit ihren schimmelfeuchten Mauern, die Stille, denn es war fern vom Verkehr, seine Schläfrigkeit nach der Eisenbahnnacht, aber nicht nur das, vor vierundzwanzig Stunden war Rolf ja noch in London gewesen, Teilnehmer an einem internationalen Juristen-Kongreß, und dann (gestern) der etwas böige Flug, das Abendessen mit der seltsam lebensfrohen Gattin, dann ihre verschlossene Zimmertüre,dann die Eröffnung und so weiter, Morgengrauen in Mailand mit krähenden Hähnen, all dies in vierundzwanzig Stunden, es war etwas viel, und jetzt in dieser Gasse der schimmligen Armut, wo die Ausgüsse über die Mauern rinnen, jetzt wieder die Erkenntnis, daß eine Tatsache, indem man sie eine Zeitlang vergißt, eine Tatsache zu sein nicht aufhört, nein, immer und immer und immer wieder ist es einfach da, ihr Gesicht voll Glück
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