Stille(r)s Schicksal
nicht so grantig", fuhr er fort, "wir hatten uns doch ausgemacht, Freunde zu bleiben. Ich wollte dir eigentlich nur einen schönen Urlaub wünschen. Und komm gesund wieder!"
"Danke!"
Das sagte sie leise und sie merkte selbst, wie erleichtert es klang. Sie spürte auch, wie verlegen sie wurde, denn es tat ihr schonLeid, Henri so abgekanzelt zu haben. Er hatte ja recht, sie waren schon nach ein paar Monaten in aller Freundschaft auseinandergegangen, weil sie gemerkt hatten, dass das Gefühl, das sie füreinander empfanden, nicht für ein ganzes Leben reichen würde. Ihr Anflug von Groll war so schnell verflogen wie er gekommen war. Deshalb legte sie auch nicht sofort wieder auf wie sie es eigentlich anfangs vorgehabt hatte.
"Du bist heute schon der zweite, der mich auffordert, gesund wiederzukommen. Ich gebe mir Mühe - also dann tschüs, ich muss jetzt weiter packen. Vielleicht schreibe ich dir ja eine Karte. Lass´ es dir gut gehen!"
Was redete sie da? Ehe noch mehr aus ihr herauskam, was sie lieber für sich behalten wollte, steckte sie nun das Mobilteil tatsächlich zurück in die Mulde.
Henri würde sich Gedanken machen, das wusste sie. Er sollte es sich gut gehen lassen? Sie konnte wohl derartige Wünsche besser gebrauchen. Sie war fast sicher, dass er sie noch immer mochte, auch, wenn sie ihm nie alles erzählt hatte. Vielleicht war ihm doch nicht entgangen, dass sie immer öfter das Gesicht verzog, wenn sie sich unbeobachtet fühlte? Jedenfalls war so nach und nach an die Stelle von Leidenschaft und Sex, Freundschaft und Mitgefühl getreten. Das hatten beide bemerkt und sich auch offen eingestanden. Sie fand auch nichts dabei, dass er seit einer Woche mit einem anderen Mädchen, einer hübschen, fröhlichen Zahntechnikerin zusammen war. Er hatte ihr ja selbst erzählt, dass Mandy für alle seine Verrücktheiten zu haben sei. So ist sie zum Beispiel genauso gern mit dem Motorrad unterwegs wie er. Bestimmt würde er sie im Juni auch zum Bikertreffen mitnehmen. Davon hatte Henri zwar noch nichts erzählt, aber sie wünschte ihm alles Glück mit Mandy.
Annes Gedanken an Henri und daran, wie aus Liebe Freundschaft geworden war, wurden jäh unterbrochen. Da war es wieder, dieses hartnäckige Stechen im Bauch. Sie musste jetzt Ruhe bewahren, schloss die Augen und lehnte sich noch einen Moment an die Garderobe. Als der Schmerz nach ein paar Minuten immer noch nicht abgeklungen war, gab sie sich einen Ruck und quälte sich bis in die Küche.
Zitternd wühlte sie in ihrer Hausapotheke herum, die aus einem ausgedienten Schuhkarton bestand. Endlich kamen die Zäpfchen hinter Mullbinden, Augenklappen und Hoffmanns Tropfen zum Vorschein.
Anne verschwand erleichtert im Bad und setzte sich nach einer kurzen Verschnaufpause gemütlich in den Sessel. Sie genoss die Stille um sich herum, den Anblick ihrer Grünpflanzen sowie den Duft und den Geschmack ihres heißen Jasmintees.
In Annes kleiner Einraumwohnung brauchte sich niemand darum zu kümmern, ob die Vorhänge richtig zugezogen waren oder nicht. Es gab dort überhaupt keine Gardinen. Vor den Fenstern standen unzählige Blumentöpfe, einige auf dem Fensterbrett, andere auf robusten Holzhockern und die ganz großen, wie zum Beispiel der kleinblättrige Gummibaum und die Dieffenbachie sogar auf dem Fußboden. Anne gefiel dieser gewächshausartige Raum mit den hellen Holzmöbeln, der ihr gleichermaßen als Wohnzimmer, Bibliothek, Esszimmer und Schlafstätte diente.
Gleich würden die Schmerzen aufhören, hoffte sie, dann könnte sie endlich weiter packen.
Es war schon fast Mitternacht, als schließlich alles in ihrer schwarzen Reisetasche mit den blauen Paspeln verstaut war. Die Tasche hatte ihrer Mutter gehört. Kaum war ihr das eingefallen, dachte sie auch schon wieder an ihre viel zu früh verstorbenen Eltern. Ein angetrunkener Fahrer habe ihnen mitten in der Stadt die Vorfahrt genommen, hatte damals im Polizeibericht gestanden, den sie selbst abtippen musste. Seitdem verstand sie noch viel besser, dass es dem Fotografen Dieter nicht leicht fiel, immer wieder schrottreife Autos nach Verkehrsunfällen zu fotografieren. Den Anblick der toten Körper von Vater und Mutter würde Anne wohl in ihrem ganzen Leben nicht vergessen. Sie war sich nicht mehr sicher, dass es richtig gewesen war, noch einmal in die unterste Station des Krankenhauses zu fahren, um sich von ihren Eltern zu verabschieden. Ihre sterblichen Hüllen auf dem wackligen Metallgefährt hatten nichts mehr
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