Stille(r)s Schicksal
Blick an dem feucht schimmernden Mund des Engelsgesichts. Bisweilen nickte die andere, obwohl die Junge keinen Ton mehr von sich gab. Die Ältere wirkte unschlüssig, wohl schwankend zwischen Zustimmung und Bedenken. Unkontrolliert schob sie ihren hohen Leib nach vorn, wodurch sich ihr Hohlkreuz noch deutlicher als sonst abzeichnete.
Als sie endlich begriff, dass von der Zierlichen nichts mehr kommen würde, wechselte sie das Thema und fragte zögernd: „Sind die verhinderten Selbstmörder früher nicht generell in die Klapse gekommen?“
Es hatte sich also doch schon im Haus herumgesprochen, bald würde es die ganze Stadt wissen! Martina wollte umkehren, sich hinter der Treppe verstecken, doch dann nahm sie sich zusammen. Bauch rein, Brust raus, Kopf hoch erinnerte sie sich an die fast schon vergessenen
Befehle
ihrer Großmutter, sie atmete tief durch, ging geradewegs auf die beiden Frauen zu und trat dabei so fest auf, wie es ihre schlotternden Beine zuließen.
Die Ältere zuckte zusammen, der in die Hüfte gestemmte Wäschekorb rutschte dabei ein Stückchen tiefer. Der Jüngeren fiel eine Orange aus der überquellenden Einkaufstüte, die sie krampfhaft gegen ihren flachen Bauch presste …
Steh-auf-Frauchen:
Fast wäre Marlene (30) bei einem Unfall ums Leben gekommen. Doch sie erweist sich wie stets als Steh-auf-Frauchen. Als solches verhilft sie auch anderen zum Glück - als Heiratsvermittlerin …
*
Ein Kranausleger von 30 Tonnen Gewicht, rutscht von einem Tieflader auf den Gehweg, auf dem Marlene und ihr kleiner Sohn Alex (im Kinderwagen) unterwegs sind. Alex wird weit weg geschleudert, aber Marlenes Leben wäre fast zu Ende gewesen.
Hatte ihr nicht eine Zigeunerin vorausgesagt, dass so etwas passieren würde? Doch Marlene besinnt sich auch auf das, was die Frau mit dem bunten Kopftuch auch noch sagte:
Immer, wenn Katastrophe vorbei - musst du aufrichten dich - wie ein Steh-auf-Männchen.
- Das tut sie auch diesmal und bei allen weiteren Schicksalsschlägen. - In der Wendezeit arbeitetet sie als Heiratsvermittlerin … dreht somit für andere am Rad des Schicksals und sorgt für deren Glück. Nur bei diesem Klaus will es nicht klappen … an jeder Frau, die Marlene ihm vermittelt, hat er etwas auszusetzen …
Leseprobe:
Marlene erinnert sich, auch Jahre später noch, an jenen Dienstag im April des Jahres 1985, als sei alles erst vor ein paar Stunden geschehen. Jedes Mal, wenn sie zurückdenkt, ist es zuerst die Freude, an die sie sich erinnert: Über den strahlenden Frühlingstag, vor allem aber über ihr Nesthäkchen Alex.
Manchmal weigert sie sich, noch tiefer in ihre Erinnerungen vorzudringen. Aber es hilft nichts. So sehr sie sich auch dagegen wehrt, sie lassen sich nicht abwimmeln: der Schmerz, der sie damals fast zu zerreißen drohte und das Wissen um ihre kurze Ohnmacht, die sie im schlimmsten Moment daran gehindert hatte, ihrem Jungen beizustehen. Dafür hatte sie sich lange Zeit selbst gehasst und auch dafür, dass sie nicht einmal imstande war zu schreien, als es passierte.
Trotzdem: So schlimm die Erinnerungen an jene Ereignisse auch sein mögen, sie beginnen immer mit den heiteren Bildern, als ob man so die schrecklichen danach besser verkraften könnte. Marlene musste erfahren, dass das ein Trugschluss war - wie so vieles andere, woran sie einmal geglaubt hatte in ihrem Leben.
*
Alex saß in seinem Laufgitter und summte leise vor sich hin. Hin und wieder unterbrach er seinen Singsang, um etwas zu sagen. „Mama“ - das klappte schon ganz gut, aber „Smeckerling“?
Marlene lächelte ihrem Jüngsten zu, als verstünde sie auf Anhieb, was er meinte.
Doch erst ein Blick auf die Fensterscheibe half ihr auf die Sprünge. Dort baumelte an einem Gummisaughaken ein Schmetterling aus rotem Glas, seine Flügel in Blei gefasst.
"Er ist schön, der kleine Schmetterling, nicht wahr?"
Doch als sich die Blicke von Mutter und Sohn kurz im Spiegel trafen, konnte sie sehen, dass sein Interesse schon wieder ganz anderen Dingen galt.
Bei seinem Versuch, seine Holzbausteine sorgfältig übereinander zu stapeln, lugte seine Zungenspitze zwischen den feuchten Lippen hervor, wie immer, wenn etwas seine ganze Aufmerksamkeit und Geschicklichkeit erforderte.
Blieb der wacklige Turm stehen, schaute er schnell zu seiner Mutter, ob diese sein Kunstwerk auch bemerken und ordentlich würdigen würde. Natürlich tat sie ihm den Gefallen, lobte wortreich sein Werk, nahm ihn kurz auf den Arm,
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