Stille(r)s Schicksal
Weinen eines Kindes unterbrochen, was für eine Wohltat! Er drehte den Sender auf volle Lautstärke.
Zu Hause empfand er die plötzliche Ruhe zunächst als wohltuend, doch schon eine Stunde später bedrückte sie ihn.
Sven wusste nicht so richtig, womit er beginnen sollte. Aufräumen war ja im Grunde noch nie seine Stärke gewesen, also verschob er die ungeliebte Aktion erst einmal auf morgen.
„ Ach, das hat Zeit, man muss sich ja schließlich auch einmal ausruhen und entspannen", dachte er wieder laut und ging gemächlich zurück auf den Hof, stieg in sein kleines rotes Auto. Die Freude über seine unverhoffte Freiheit ließ ihn so kräftig aufs Gaspedal treten, dass das Gefährt einen heftigen Satz nach vorn machte.
Am besten ist, ich fahre nach Berlin, da habe ich wenigstens ein paar Freundinnen, dachte Sven. Er blinkte rechts und hielt an. Ein Blick in sein Portemonnaie brachte ihn zur Besinnung, und er drehte wieder um.
Vor dem Haus des dicken Hoffmann trat er, einer spontanen Eingebung folgend, auf die Bremse. Hatte ihn dieser Dachdecker, er hieß Udo, das wusste er noch, nicht schon manchmal angesprochen, er solle doch mal vorbei schauen, einfach so, vielleicht auf ein Spielchen?
Sven hatte ihn immer abblitzen lassen. Keine Zeit, ständig im Stress wegen der Kleinen.
Nun war er selbst erstaunt, als er sich sagen hörte: „Hi, Udo, da bin ich, du hattest doch gesagt ... vielleicht mal auf ein Spielchen?"
Udo Hoffmann stand im Lichtkegel der geöffneten Haustür und glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Der komische Vogel wollte ihn besuchen? Wo doch alle im Dorf dachten, der sei nicht mehr ganz richtig im Kopf, seit das mit seiner Frau passiert war? Er wollte ihn abwimmeln, fragte aber scheinheilig und auch ein bisschen spöttisch, ob Sven denn überhaupt Zeit habe, wo er doch immer auf die Kleine aufpassen müsse? Der Idiot würde das bestimmt für Anteilnahme halten.
"Klar, habe ich Zeit! Laura ist im Krankenhaus, und die Arbeit läuft zu Hause auch nicht davon, die kann ich morgen noch erledigen."
Sven gab sich betont locker, gestikulierte herum legte Udo jovial seine Hand auf die Schulter. Doch der trat unverhofft einen Schritt zurück.
„ Im Krankenhaus? Was hat sie denn?" Diesmal war sein Interesse nicht gespielt.
Im Dorf wurde ja viel getuschelt. Der Stiller würde die Kleine öfter mal verhauen und so. Aber wie ein Schläger sah der eigentlich nicht aus. Doch sein Misstrauen war noch immer nicht ganz verflogen.
„ Ach nichts weiter, eine Grippe, das wird schon wieder." sagte der unerwartete Besucher leicht hin und klemmte sich eine Haarsträhne hinters Ohr, denn für den Friseur hatte Sven kaum noch Geld ausgegeben.
„ Klar, wird es.“ Hoffmann wollte seinen abendlichen Besucher nun auch nicht mehr vor den Kopf stoßen und bat ihn herein.
„ Aber nicht zu lange, ich muss morgen früh raus. Karsten ist auch gerade da.“ Nun wären sie zu dritt und könnten tatsächlich ein Spielchen wagen.
Er war schon ein Stück in den hell erleuchteten Hausflur vorausgegangen, die Tür ließ er einladend offen stehen.
Sven kratzte sich ungewohnt gründlich die Schuhe auf dem Abtreter ab, denn hier blitzte alles vor Sauberkeit. Das hatte er sofort bemerkt.
Udo wohnte noch bei seinen Eltern, er hatte im Obergeschoß eine kleine Einliegerwohnung, in der auch manchmal seine Freundin Cindy übernachtete, wie er im Dorfladen gehört hatte.
Wieder huschte sein Blick in alle Winkel.
Kein Stäubchen war zu entdecken, und Sven würde jede Wette eingehen, dass das auch in den anderen Räumen nicht anders war. Und wie gut es hier roch, so frisch, irgendwie nach Zitronenöl. Dieser Geruch war ihm noch aus glücklicheren Tagen geläufig, Anne hatte ihn auch immer gemocht.
Es kam ihm jetzt vor, als gehörten die vergangenen Zeiten zu einem ganz anderen Leben. An ihrem ersten gemeinsamen Weihnachtsfest zum Beispiel, hatten seine Eltern dafür gesorgt, dass es auch in seinem Haus so gut gerochen hat.
Das damals empfundene Wohlbehagen stellte sich wieder ein. Er erinnerte sich an ihre leisen Unterhaltungen, wenn er abends von der Arbeit heimgekommen war, und sich zu seiner Frau auf die Bettkante gesetzt hatte, um ihr beim Sticken zuzusehen. In jener Zeit war Schnaps für ihn ein Fremdwort gewesen.
Doch jetzt war das alles vorbei. Es gab keine Anne mehr, seine Arbeit hatte er auch verloren. Bei ihm zu Hause roch es jetzt anders: muffig und säuerlich.
An all dem Elend sei nur die kleine Heulsuse Schuld,
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