Stille(r)s Schicksal
stören!
Außer vielleicht die Spiegelscherbe? Die war inzwischen schon erheblich kleiner geworden, denn manchmal hatte es ihn eben doch gestört, dieses verquollene Gegenüber, das ihm immer öfter daraus entgegen starrte. In so einem Moment musste er wohl zugeschlagen haben.
Als Sven diesmal den letzten Schluck aus der Flasche trank, überkam ihn eine große Ruhe. Angenehm war sie, diese Wärme, all sein Frust und seine Unzufriedenheit mit sich selbst waren in weite Ferne gerückt. Er fühlte sich gut, wie lange nicht mehr, streckte seine langen Beine von sich.
Alles Weitere lief schon fast automatisch ab. Voller Sehnsucht dachte er an Anne, stellte sich ihren schlanken Körper aus der Teneriffazeit vor und überließ sich dabei ganz und gar seiner Lust.
Danach fiel es ihm schwer, sich aus der Tiefe des Sessels hoch zu rappeln, doch er schaffte es schließlich sogar, die paar Schritte bis zur Matratze zu schwanken, ohne umzufallen. Als er die schmuddelige Decke bis zum Kinn zog, wünschte er sich die Zeit mit Anne verzweifelt zurück, obwohl sein bisschen Verstand sagte, dass nichts unmöglicher sei als dieser Wunsch. Er beklagte sein Schicksal, fragte sich, warum seine Frau ihn verlassen habe, obwohl sie doch die Liebe seines Lebens gewesen war.
Trotz alledem war es ihm einen Augenblick lang vorgekommen, als hätte er schon an ihrem Todestag begonnen, ihr Denkmal zu zerlegen. Sven bereute es aufrichtig, dass er sich gegenüber seiner Mutter so über Annes Vorwürfe ausgelassen hatte.
Doch als er jetzt versuchte, sich das Gesicht seiner Frau vorzustellen, verschwammen die Konturen vor seinem inneren Auge mehr und mehr. Nach zehn Minuten schlief er schon so fest, dass er nicht mehr hören konnte, wie Laura oben wieder zu weinen begann.
Am nächsten Tag hatte Sven ein furchtbar schlechtes Gewissen, er herzte und küsste seine kleine Tochter, kochte ihr eine Milchsuppe, kühlte das Fläschchen unter der Wasserleitung ab, prüfte auf seinem Handrücken die Temperatur und war glücklich, als Laura zufrieden trank, ohne auch nur ein einziges Mal zu weinen.
Am Abend badeten sie sogar zusammen in der Duschwanne, hatten eine Menge Spaß und lachten.
Mein Gott, dachte Sven, jetzt wird alles gut. Sie ist doch wirklich ein süßer Fratz, meine Tochter. Diese Grübchen, die hat sie wohl von mir. Stolz richtete er sich auf.
Früher habe ich doch schließlich auch nicht getrunken, schalt er sich. Zum Kuckuck, ich werde mich ab sofort zusammenreißen, nahm er sich vor.
Wie zur Bestätigung stupste er mit ausgestrecktem Zeigefinger an die kleine, rosige Brust, die vom warmen Wasser dampfte.
Laura gefiel das, sie quietschte vor Vergnügen mit ihrem Vater um die Wette und streckte ihren winzigen Zeigefinger nach seiner behaarten Brust aus.
***
Es war trotzdem nicht so einfach für Sven, sich an seine guten Vorsätze zu halten, aber er schaffte es immerhin eine Zeitlang. Vielleicht lag es daran, dass die Oma öfters gucken kam und sich freute, wie gut es ihrer Prinzessin ging.
Bei ihrem Sohn tat sie innerlich Abbitte. Gott sei Dank, dachte sie, waren meine Befürchtungen doch unbegründet. Sie war schnell beruhigt und fuhr wieder heim, um auf schnellstem Wege ihrem Mann berichten zu können, wie vorbildlich Sven seiner Vaterrolle gerecht wurde.
Sie malte in den rosigsten Farben auch manches, was sie in Wiesenberg nicht vorgefunden hatte. "Stell dir vor, er kann besser mit der Waschmaschine und dem Staubsauger umgehen als Edeltraud!"
Helmut lächelte vor sich hin, doch Margot wusste dieses komische Lächeln nicht zu deuten. Also glaubte sie, was sie darin sehen wollte: Helmut war stolz auf seinen Sohn.
Dass es sich doch nicht ganz so zu verhalten schien, machte ihr seine lapidare Bemerkung deutlich, die auf ihren Lobgesang folgte.
„ Das möchte auch sein!“
Das war und blieb eine seiner freundlichsten Äußerungen, wenn sie mit guten Neuigkeiten aus Wiesenberg zurückkehrte.
Um der offensichtlichen Eifersucht ihres Mannes nicht noch mehr Nahrung zu liefern, vergrößerte sie die Abstände zwischen ihren Besuchen.
Sven merkte das sehr wohl und fühlte sich nun wieder in seiner ursprünglichen Annahme bestätigt, dass er seinen Eltern sowieso gleichgültig sei.
So wechselten sie sich ab, die hellen Zeiten voller Freude und die anderen, die dunklen, in denen Sven überhaupt nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf stand.
Später hatte er den Eindruck, als habe sich gerade in jenen Zeiten niemand blicken
Weitere Kostenlose Bücher