Stille(r)s Schicksal
lassen.
Doch, ein- oder zweimal, erinnerte er sich noch viel später, sei schon jemand dagewesen. Diese unscheinbare Frau fiel ihm wieder ein.
Sie käme von der Krebsfürsorge, hatte sie Sven erklärt, als er auf ihr Klingeln die Haustür öffnete.
„ Ich habe aber keinen Krebs!" hatte er die Unbekannte feindselig angeknurrt .
Er war gerade mühsam aus seinem
Trostkeller
hochgeklettert, auf allen Vieren, um nicht wieder abwärts zu kullern.
Jeden Beinmuskel spürte er schmerzhaft, auch der Rücken tat ihm weh, und er war wütend.
Da kam ihm diese graue Maus gerade recht. Es war gut, dass er sie anschreien konnte, denn damit war die Wut schnell verraucht.
Irgendwie tat es ihm dann auch gleich wieder Leid, dass er sie so angeblafft hatte. war. Mein Gott, die war einfach nur ganz ruhig stehen geblieben.
„ Ja, ich weiß", hatte sie gesagt, „aber wir kümmern uns auch um die Angehörigen von verstorbenen Krebspatienten. Wir helfen, wenn es Probleme gibt, könnten wir das nicht drinnen besprechen?"
Es hatte fast schüchtern geklungen, sie war auch nicht einen Zentimeter auf ihn zu gegangen.
Doch Sven hatte trotzdem beide Arme links und rechts gegen den Türrahmen gestemmt. Das machte sich gut, zum einen, weil es ihn am Umfallen hinderte und zum anderen wollte er sein privates Territorium verteidigen.
Privates Territorium, fand er gut diesen Ausdruck. Anne hatte ihm mal etwas von einem geschützten Territorium erzählt, war wohl aus irgend einem Buch gewesen.
Hier, in seinem geschützten Territorium also, hatte jedenfalls niemand etwas zu suchen, auch diese unscheinbare Maus nicht.
Als sie trotzdem immer noch so unschlüssig stehen geblieben war, hatte er sich plötzlich geschämt.
Nein, er konnte sie beim besten Willen ... nicht hereinbitten ... überall diese Dreckecken ... und die Kleine sieht wohl heute auch nicht so ... wie es sich gehört. Die Gedanken kamen in Schüben, richtige Sätze fielen ihm heute wieder schwer. Sven kniff die Augen zusammen, um sich zu erinnern, wann er seine Tochter das letzte Mal gebadet hatte. Es wollte ihm partout nicht einfallen. Doch das wollte auch nichts besagen, es konnte auch vorgestern erst gewesen sein. Sein Gedächtnis ließ ihn in letzter Zeit öfters im Stich.
Langsam hatte die Wut wieder von ihm Besitz ergriffen, als die graue Maus noch immer keine Anstalten machte abzuhauen, sondern einfach dastand und glotzte.
„ Verschwinden Sie!“, fuhr er sie an, „zwischen uns gibt es nichts zu besprechen!“ Und dann war ihm wohl für einen Moment bewusst geworden, dass er eine Idee zu weit gegangen war, und er lenkte schnell ein.
„ Ach wissen Sie, bei uns geht schon alles seinen Gang."
Dabei versuchte er sogar ein schiefes Lächeln.
Die Frau hatte genickt, nachdenklich, schwankend zwischen Zustimmung und Argwohn.
War sie etwa nicht überzeugt, dass ich in der Lage bin, Haus, Hof und Kind richtig zu versorgen, fragte sich Sven. Aber er wusste ja auch von Anne, dass sich niemand einmischen durfte, wenn der Betreffende selbst die Hilfe nicht wollte.
So war die Frau von der Krebsfürsorge unverrichteter Dinge wieder weggegangen. Sven hatte ihr triumphierend die Tür vor der Nase zugeknallt.
Aber sonst hatte sich lange Zeit niemand blicken lassen, nicht einmal die Nachbarin, Frau Lärche. Nicht, dass er sie direkt vermisst hätte, aber vielleicht hätte sie ihn wenigstens einmal gelobt, seine Bemühungen um alles anerkannt?
Vielleicht hätte sie ja einen von den hellen Tagen erwischt - wie seine Mutter.
Doch jetzt waren gerade wieder diese anderen, die dunklen, Tage dran.
Sven fühlte sich grauenvoll, konnte sich einfach nicht aufraffen, auch nur den kleinsten Finger zu rühren. Schon über zwei Stunden saß er da und starrrte seine krebsrote Tochter an, als erwarte er ausgerechnet von diesem Schreihals Hilfe. Ganz kurz huschte der Gedanke an ihm vorüber, dass es ja eigentlich umgekehrt sein müsste, dass sie im Grunde seine Hilfe brauchte. Sie konnte ihm nicht sagen, was ihr weh tat. Sie konnte sich eben nur schreiend bemerkbar machen.
Sonst hatte er ihr in solchen Fällen immer irgend etwas zusammengerührt und sie gefüttert, damit sie still sei.
Doch heute konnte er sich nicht einmal dazu aufraffen, etwas Brot in einer Tasse Wasser zu zerdrücken.
Laura schrie und zitterte am ganzen Leib.
"Was ist los, frierst du?" fragte er müde.
Widerwillig schleppte er noch eine Decke herbei und warf sie achtlos in das Kinderbett. Doch Laura zitterte
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