Stillmanns Münzen (German Edition)
anzurufen. Denn ich hatte nichts zu erzählen und wäre mir dämlich vorgekommen, sie zu stören, nur um ihre Stimme zu hören. Ich wurde das unheimliche Gefühl nicht los, der hagere Mann war nur nicht erschienen, weil wir vorhatten ihn zu verfolgen. Als hätte ihn jemand gewarnt. So drehten sich meine Gedanken im Kreis, bis mir schwindelig wurde, mit einer Unruhe im Bauch, die mich weder schreiben noch schlafen ließ.
Am nächsten Tag hatte ich frei, doch ich fuhr zu meiner gewöhnlichen Zeit mit der Bahn nach Mundsburg, in der Hoffnung, dass er heute da war. So wäre alles wieder auf dem richtigen Weg und das unsichere Abdriften von gestern vergessen.
In der Tat, da stand er nun, Montag Nachmittag, das ,N.Y.' verdeckend. Ich hielt schon durch das Fenster der Bahn nach ihm Ausschau und konnte mir ein Lachen nicht verkneifen, das eine Frau mir gegenüber mit einem irritierten Blick quittierte. Sei es drum, alles war mir gleich. Nun musste ich so schnell ich konnte vom einen Bahnsteig zum anderen wechseln. Die Bahnen erschienen auf beiden Seiten nahezu zeitgleich. Und so ambitioniert ich war, so leicht fiel es mir, entgegen kommenden Passanten bei meinem Lauf treppab, treppauf auszuweichen.
Jeder, der die Treppen zum Bahnsteig hinauf hechtet, kennt diesen Satz, diesen kurzen Befehl ,Zurückbleiben bitte!' und er flucht, dass er nicht schneller war, und hofft, dass er noch schnell genug sein wird. Ich war es, als die mechanische Stimme ertönte, und quetschte mich durch sich schließende Türen, in jenen Waggon, in dem ich den Mann vermutete. Die Türen waren dem Graffiti gegenüber. Ich senkte den Kopf und schaute mich im Waggon um, als würde ich nach einem freien Platz suchen und mein Glück war, dass viele unterwegs waren. Doch während ich in die Gesichter, flüchtig nur, schaute, keimte in mir eine unangenehme Erkenntnis. Er war nicht hier! Jedenfalls entdeckte ich ihn nicht. Ich bin nun ungeübt im Beschatten, aber es war so einfach, eigentlich. Aber nein, auch als ich durch die Fenster in die anderen Waggons spähte, sah ich ihn nicht. Ich hatte ihn verloren, noch bevor ich ihn überhaupt gefunden hatte. Ich Versager!
Wieder mit diesem wahnsinnigen Gefühl im Bauch ging ich nach Hause, rief auf der Arbeit an und meldete mich krank. Morgen wollte ich dem hageren Mann folgen, kostete es, was es wollte. Ich erschlich mir ein Attest von meinem Hausarzt, denn niemand ist heute sicher, wenn er erkrankt. Auch nicht, wenn er einige Jahre für seine Firma tätig ist. So viele sind heute krank, machen heute krank, weil sie nicht mehr können. Wenn ich mein Schreiben nicht hätte, und meine Filme, ich wäre auch krank, für länger bestimmt, vielleicht wäre ich meine Arbeit schon los. Wie habe ich es geschafft, meinen Abschluss zu machen? Ich weiß es nicht mehr.
Meine Nacht davor verlief unruhig, voll wirrer Träume, und unentspannt erwachte ich wieder. Ein neuer Tag, an dem ich mein Glück strapazieren würde, wenn ich in die Nähe meines Arbeitsplatzes kam. Was machte das für einen Eindruck? Da war zwar kein cholerischer André in der Theaterleitung, aber sie achteten schon sehr genau auf ihre Mitarbeiter. Es gab zu viele, die regelmäßig erkrankten, und von mir waren sie es nicht gewohnt. Aber ich hatte einen Plan. Heute würde ich alles anders angehen.
Ich ging davon aus, dass ich ein ihm unbekanntes Gesicht war. Mir war bisher nicht aufgefallen, dass er in meine Richtung geschaut hätte. Also hatte ich den Vorteil, als einfacher Passant auf seiner Seite zu warten. Als wäre ich einer von vielen. So fuhr ich früher als sonst, mit der leisen Angst von einem Kollegen entdeckt zu werden, schritt dennoch entspannt treppab, treppauf und setzte mich auf die Holzbank unweit vom Graffiti. Ich war drei Bahnen zu früh, und um mir die Zeit zu vertreiben, las ich in einem Buch, das ich schon vier Mal beendet hatte.
Es war mir wieder eingefallen, nachdem wir diese fixe Idee des Beschattens bekommen hatten. Paul Austers ,Stadt aus Glas' handelte ebenfalls vom Verfolgen eines Unbekannten. Dort wird die Hauptfigur mit einem Privatdetektiv verwechselt und beauftragt, unter Angabe dubioser Gründe, einen Mann namens Stillmann zu beschatten. Was als Krimi beginnt, entpuppt sich bald als ein labyrinthartiges Mysterium, in dem sich der Held verliert. Denn die Wege Stillmanns, die er in der Stadt New York (wieder ,N.Y.') zurück legt, scheinen keinem System oder Sinn zu unterliegen. Der falsche Detektiv verschwindet im Moloch
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