Stillmanns Münzen (German Edition)
darüber nachgedacht, mir das Leben zu nehmen. Und wie jeder potentielle Selbstmörder suchte ich nach einer geeigneten Methode. Starke Schmerzmittel wie Morphium, ja, die würde ich wählen. Einfach einschlafen und nicht mehr aufwachen, schmerzlos in seine Welt gleiten. Denn wenn ich keine Wahl hatte, ob ich in diese Welt komme, dann steht mir zumindest die Entscheidung frei, wie ich wieder hinaus gelange. Aber ich werde es nicht tun. Ein paar Stunden Glück am Tag reichen anscheinend aus.
Was ist Glück eigentlich? Ich bin überzeugt, dass ich gar nicht schreiben bräuchte, wenn ich die meiste Zeit meines Lebens glücklich wäre. So erreiche ich nur ein Gefühl, das dem Glück ähnlich ist, eben weil es mir nicht so gut geht. Ist das ein Widerspruch? Könnte auch ach so menschlich sein: Wer schätzt sein Glück, wenn er nichts zum Vergleich hat?
Doch zurück zum Kino. Seit meinem ersten Tag dort wartete ich auf Routine, dass ich mir vorkommen konnte, als würde ich zum Inventar des Kinos gehören. Zum Teil einer Welt, in die Abertausende täglich entführt wurden. Okay, ich muss jetzt erwähnen, dass wir auch viele Drecksfilme zeigen, aber was ich erzählen möchte, ist wohl klar. Von Beginn an wollte ich im Großen des Raumes aufgehen, ein bekanntes doch unwichtiges Gesicht für die Besucher werden; Stammkunden nicken mir lächelnd zu, andere sehen das Logo auf meinem Hemd und wenden sich mit ihren Fragen an mich. Nicht viel später bestand ich auf Endschichten, in denen ich für die besagten zwei Stunden ganz allein durch die Flure wandern konnte, bis die Besucher der Spätvorstellung hinaus kamen. Diese Zeiten allein beglücken mich. Und anders als bei meinem Schreiben, fühle ich mich frei. Auf eine verquere, eingesperrte Weise wohl.
Zu Beginn schlich ich mich noch schüchtern in einen der Säle, stellte mich ans Ende des kurzen Flures, der hinein führte, und drehte meinen Rücken so zur Leinwand, dass ich die Menge betrachten konnte. Die Schemen ihrer Köpfe und Körper. Heute gehe ich ungeniert hinein, meist in mehrere Säle hintereinander.
Den Ton des Films im Ohr beobachte ich die Reaktionen des Publikums. Beachtet werde ich nicht. Vielleicht schenken mir einige sekündliche Aufmerksamkeit und glauben dann, ich sorge für Ruhe und Ordnung.
Menschliche Dramen gibt es in meinem Kino weniger. Die spielen sich draußen oder in meinem Kopf ab. Oder unter meinen Kollegen, aber von denen muss ich nicht berichten. Sie sind lediglich das Beiwerk meines Lebens, das eigentliche Inventar des Kinos. Ich gehöre nicht dazu. Auch wenn wir alle dieselben Hemden tragen und man meinen könnte, wir wären gleich. Wie die Kunden uns sehen. Angestellte ohne Persönlichkeit. Die haben doch keine Ahnung!
Während ich die letzten Zeilen schrieb, bemerkte ich einen Widerspruch. Es heißt, je mehr Widersprüche ein Mensch nach außen zeigt oder in sich trägt, desto unsicherer ist er in seinem Leben. Weil er sich einfach nicht entscheiden kann. Sagte ich eben, dass ich unbedingt zum Kino gehören wollte, so bestehe ich nun darauf, dass ich für die Kunden ein eigenständiger Mensch bin. Ich möchte mich also als Inventar fühlen, aber nicht durch Augen anderer. Und das ist der Widersprüche Anfang. Warum wohl lasse ich die Münze entscheiden, seit ich sie gefunden habe?
Die Münze verwickelt mich in keine Widersprüche. Einmal ja oder nein, die Entscheidung steht fest. Und ich halte mich an sie. Das kann sehr frustrierend sein, aber es bewahrt mich vor Enttäuschungen.
Ich bin allein. Nicht nur heute, ich fühle mich mein ganzes Leben schon allein. Nicht einsam! Das sind zwei unterschiedliche Einstellungen zum Leben. Alleine sein kann man wählen, Einsamkeit nicht. Sie kommt wie mein Begleiter und bleibt so lange sie möchte. Ich bin gerne allein, wie jetzt, wenn viele andere während dieser dunklen Stunden nach der Nähe eines Menschen suchen.
Gut, ich gebe zu, es gibt da jemanden, den auch ich jetzt treffen möchte, aber das geht nicht. Ich habe eine Kollegin, die aus all dem Beiwerk hervor sticht. Schon als ich sie das erste Mal erblickte, aus einiger Entfernung, wie vom Wind getragen schritt sie den Gang hinunter, spürte ich diese tiefe Verbundenheit zu ihr. Sie gehört nicht hierher, dachte ich. Nicht so wie all die anderen, die zum Kino gehören. Nicht wie ich.
Sie war die einzige Person, mit der ich zunächst kein Wort wechselte. Ich traute mich nicht, sie anzusprechen, und ihr Arbeitsplatz ist weiter entfernt als
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