Stimmen der Nacht
nichts gegen die Kletten?« fragte der Pilot. »Es ist grausam, was man Ihnen angetan hat. Niemand kann sowas lange ertragen, ohne den Verstand zu verlieren.«
»Es ist sinnlos«, erklärte Gulf. »Die Zerstörung der Elektrischen Kletten wäre nur ein symbolischer Akt ohne greifbaren Nutzen. Wenn die Kletten schweigen, tritt keine Stille ein. Das Problem ist nicht so einfach zu lösen. Kennen Sie Elebe Lisembe?«
Der Pilot schüttelte bedächtig den Kopf. Seine Finger lang und schmal, in Lederhandschuhen, die wie Speckschwarten glänzten – huschten wie Spinnenbeine über Knöpfe und Kippschalter. Das Gedröhn der Rotoren wurde lauter. Die Maschine neigte sich und verlor an Höhe, um sich in die Flugschneise einzufädeln und Kurs auf den Morgenthau Airport zu nehmen.
»Lisembe ist ein Dichter«, sagte Gulf. »Ein großer afrikanischer Dichter. Und mehr noch: Ich glaube, er ist ein Prophet. Wenn die Klette zu mir spricht, denke ich oft an eines seiner Gedichte.
Die Toten haben uns nie verlassen.
Sie sind unter uns.
Die Toten sind überall:
Sie sind im Dunkel, das sich erhellt.
Die Toten sind nicht unter der Erde:
Sie sind im Baum, der rauscht.
Sie sind im Holz, das ächzt.
Sie sind im fließenden Wasser.
Sie sind in der Hütte.
Sie sind in der Menge.
Die Toten sind nicht tot …
Lisembe hatte recht«, sagte Gulf. »Die Toten sind nicht tot. Und die Kletten … Es sind nicht die Kletten selbst, die zu mir sprechen, nicht wirklich, verstehen Sie? Die Kletten waren früher nur Automaten, Spionagemaschinen, von Elizabeth auf mich angesetzt, eine verdammte Nazi-Erfindung aus Deutsch-Amerika, ein Spielzeug für die hoffnungslosen Paranoiker in Montevideo und Buenos Aires. Aber später« – Gulf beugte sich nach vorn und gestikulierte, untermalte seine hervorgestoßenen Worte mit nervösen Bewegungen – »aber später, nach Elizabeths Tod, geschah etwas; etwas Schreckliches und Unvorstellbares, und seitdem tragen die Kletten ihr Gesicht und sprechen mit ihrer Stimme. Sie ist tot und doch nicht tot. Wenn die Kletten sprechen, dann ist es keine Tonbandaufnahme, sondern Elizabeth, die spricht, und zwar jetzt, in diesem Moment.«
Er hörte Geflüster, und im ersten Moment glaubte er, daß die Klette wieder ihren vorwurfsvollen Monolog aufgenommen hätte, aber es war nur die Stimme eines Fluglotsen vom Morgenthau Airport, die aus dem Kopfhörer des Piloten drang. Die Klette hockte still in ihrem Versteck, klein und unscheinbar wie eine Fliege, und sie kannte keine Eile, weil Zeit für Elizabeth unwichtig geworden war. Der Pilot beantwortete die Funkanfrage des Towers mit einigen knappen Sätzen, und Gulf sah im Halbschatten des Cockpits plötzlich wieder Elizabeth vor sich. Er sah sie in ihrem golddurchwirkten Kleid, mit gelocktem Haar und schmalem, blassem Gesicht, viel zu blaß für das helle Rot ihrer geschminkten Lippen und das Rotbraun ihrer Augen, mit silbernen, hochhackigen Schuhen, die sie größer erscheinen ließen, als sie in Wirklichkeit war. Sie lächelte, während sie die Rampe hinunterging und die Bühne betrat. Zum Finale Tonbandapplaus, Laserlicht, farbige Spots und holografisches Sterngefunkel. Und Musik, natürlich Musik, Starclub von Paul McCartney, die Erkennungsmelodie von Abenteuer Live. Konfetti und Licht, Gefunkel, Glimmer und Geflimmer … Finale für Abenteuer Live, die Show, die das Leben war, und die große Ziehung für die Millionen Zuschauer, die Showlotterie, bei der dem glücklichen Gewinner als erster Preis ein Abenteuer nach Wahl winkte. Elizabeth ging zur großen gläsernen Walze mit den unzähligen Postkarten, und Gulf sah ihr Lächeln, ihr rätselhaftes dunkles Lächeln, als sie eine der Postkarten zog und den Namen des Gewinners vorlas. »Hier ist es«, sagte Elizabeth, »dein Abenteuer, Jakob Gulf.« In ihrer Hand das Feuerzeug, in ihrer Hand die Flamme, und er roch plötzlich das Benzin, mit dem ihr Kleid getränkt war, und die Flamme sprang über, und sie brannte lichterloh. Feuer, wo Elizabeth stand, Benzingeruch, Fleischgeruch, und dazu die Fanfaren und der Tonbandapplaus, Abenteuer Live, präsentiert von Jakob Gulf, das Ende der großen Jubiläumsshow, das Ende …
Gulf keuchte.
»Wir landen in wenigen Minuten«, sagte der Pilot. »Es ist alles organisiert. Das Flugzeug ist startbereit. Mr. Splitz ist schon an Bord. Sie können in einer Stunde abfliegen …« Er zögerte einen Moment. »Glauben Sie, daß Sie es schaffen werden?« fragte er dann. »Daß
Weitere Kostenlose Bücher