Stimmen der Nacht
verschonte und niemanden gleichgültig ließ.
Sie hat nicht gesprochen, erkannte Gulf erleichtert. Und vielleicht wird sie weiter schweigen, für immer … Er schöpfte neue Hoffnung, obwohl er wußte, daß die Hoffnung trügerisch war und daß die einzige Hoffnung, wenn überhaupt, im alten Reich auf ihn wartete, in den Ruinen von Köln.
Splitz schien seine Gedanken zu erraten. »Nein, sie hat noch nicht wieder gesprochen«, erklärte er mit schwerer Zunge. »Ich frage mich, warum sie schweigt. Vier Jahre lang hat sie ununterbrochen geredet, und ausgerechnet jetzt schweigt sie. Ausgerechnet jetzt, vor unserer Ankunft im Reich.«
Das Reich, dachte Gulf. Es existiert nicht mehr. Aber wir reden jetzt davon, als wäre es niemals untergegangen.
»In Deutsch-Amerika«, sagte er laut, »spricht man oft vom Reich. Die Exil-Nazis haben Deutschland nie aufgegeben. Damals in Brasilien hat mich Wachsmann in die deutschen Lokale geführt, jene, in denen Politik gemacht wird wie früher im Hofbräuhaus. Er hat mir alle gezeigt, weil er mir beweisen wollte, daß das Reich noch nicht tot ist. Ich bin im Rasthaus zum Spessart in Rio gewesen, in der Reichskanzlei in Germania und dem Lieb Vaterland in Santos. Die Latinodeutschen sitzen dort bei Eisbein mit Sauerkraut, bei vierzig Grad im Schatten, und erzählen von der großen Zeit im Reich. Alte, weißhaarige SS-Männer, an deren Händen noch das Blut von Treblinka und Bergen-Belsen klebt, stemmen Maßkrüge mit bayerischem Bier, gebraut in Caracas, und Tränen treten in ihre Augen, wenn sie vom Schwarzwald und von der Eifel schwatzen, vom Kyffhäuser und von den blauen Fluten des Rheins, von den Weinbergen und den Burgen, die so zerfallen sind wie ihre Städte. Der Führer, sagen sie, der Führer hatte recht. Der Jud, der wollte uns tatsächlich vernichten, und er hat es fast geschafft. Fast. Zum Teufel mit Morgenthau, wir kehren heim, sagen sie. Wir bauen Berlin wieder auf und wir hissen die Fahne über dem Reichstagsgebäude, die Fahne mit dem Hakenkreuz. Und wäre der Jud nicht gewesen …«
Gulf hustete. Splitz’ Zigarettenrauch kratzte in seiner Kehle.
»Wir wissen Bescheid«, schnaufte Splitz. »Die Latinodeutschen finanzieren Dutzende von Nazi-Banden in Europa. Sie versuchen wieder Fuß zu fassen, und es fällt ihnen nicht schwer. Die Deutschen sind nicht klüger geworden. Und wir – wir sind damals nicht klug genug gewesen. Roosevelt hätte nach dem Krieg nicht auf Morgenthau hören dürfen, aber Roosevelt war krank. Und Stalin kam Morgenthaus Plan gelegen. Vergessen Sie nicht die zwanzig Millionen Toten. Stalin wollte für alle Zeiten verhindern, daß die Deutschen wieder gegen Rußland marschieren. Und Morgenthau, verrückt vor Gram und Zorn über das Morden in den Konzentrationslagern, Morgenthau wollte die Deutschen befrieden und für immer schwächen, indem er ihre industrielle Macht zerschlug und sie in ein Volk von Bauern verwandelte. Beide haben sich geirrt. Schlimmer noch, sie haben die Deutschen in ihrem Wahn bestärkt. Hitler ist populärer als vor dem Krieg. Die Deutschen bauen keine Panzer und Flugzeuge mehr, sondern Pflugschare und Rechen. Statt durch fremde Länder zu marschieren, bestellen sie ihre Äcker und mähen ihre Wiesen, aber sie sind noch immer Nazis, und schlimmere Nazis als je zuvor. Morgenthau hat genau das Gegenteil von dem erreicht, was er erreichen wollte. Jetzt sitzen die Nazis direkt vor unserer Haustür, nicht mehr im fernen Europa wie einst. Und sie haben ihre Pläne nicht aufgegeben.«
Splitz rauchte nervös.
»Die Lage ist gespannt«, sagte er. »Nicht nur in Krautland mit seinen Bombenlegern, diesen Bauernburschen, die sich Werwölfe nennen und vom Führer wie von einem Heiligen sprechen. Im Mittleren Osten fahren sich die Israelis und Araber gegenseitig an die Kehle, und die verdammten Latinodeutschen mischen dabei natürlich auch mit. Und in Südamerika … Immer öfter wird in Bogotá und Santiago von der Bombe gesprochen. Der Kalte Krieg in den siebziger Jahren war nur ein Geplänkel, glauben Sie mir. Die Latinodeutschen haben nur ihre Muskeln spielen lassen. Und damals waren sie schwächer als heute. Sie hassen uns, und dieser Haß und nicht rationale Motive bestimmen ihre Politik. Es gibt keine Möglichkeit zur Verständigung.
Sie hassen uns Amerikaner«, bekräftigte Splitz. »Sie hassen uns aus tiefster Seele, wegen Morgenthau und dem, was er aus dem Reich gemacht hat. Sie rüsten zum Krieg, zum Heiligen Krieg gegen
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