Stimmen der Nacht
die Kühle im Weißen Haus, an die Stille im Oval Office, an die magere, zusammengesunkene Gestalt des Präsidenten. An Robert Kennedys blasses, von den Medikamenten aufgedunsenes Gesicht und an den fiebrigen Glanz seiner Augen: ein kranker, vom Tode gezeichneter Mann, der keine Ähnlichkeit mehr hatte mit dem jugendlich wirkenden, tatkräftigen Politiker der sechziger Jahre. Mit dem Staatsmann, der verhindert hatte, daß der Kalte Krieg mit Deutsch-Amerika in einen heißen ausartete, und der – fasziniert von Morgenthau, den Erfolgen des New Deal und dem Ruf seines Bruders John über dessen Tod hinaus treu – keine Auseinandersetzung gescheut hatte, wenn es um die Durchführung des Sozialprogramms ging, das ihn schließlich Wahl um Wahl gewinnen ließ …
Und Gulf erinnerte sich an das Zittern in seiner Stimme, als der Präsident ihn nach Elizabeth gefragt hatte und danach, ob es vielleicht eine Möglichkeit gäbe, daß auch sein Bruder John irgendwann das Schweigen brechen würde, das endgültige Schweigen nach den Schüssen in Dallas, im November ’63.
Der Präsident hatte selbst nach all diesen Jahren seinen Bruder nicht vergessen. Wie zur Mahnung hing hinter dem Schreibtisch im Oval Office Johns Bild an der Wand, das Bild eines lächelnden, hoffnungsfrohen Mannes unter dem Sternenbanner. Auf beide Brüder war ein Attentat verübt worden, doch John F. Kennedy war gestorben, während Robert überlebt hatte, für immer von seinen schweren Verletzungen gezeichnet.
Aber, kamen Gulf Robert Kennedys Worte in den Sinn, ist es gerecht, daß er schweigt, während andere reden, daß er tot bleibt, während andere auferstehen, daß die Grabeskälte ihn gefangenhält, während in Europa, in Köln …
Er fröstelte.
Seit seinem Gespräch im Weißen Haus wußte er, daß er nicht der einzige war, dem die Toten keine Ruhe gönnten, daß sich nicht allein Elizabeth weigerte, für immer dahinzuscheiden, ins Vergessen, ins Nichts, in die Dunkelheit des Grabes.
Dennoch quälten ihn die alten Zweifel, und er fragte Splitz: »Aber was ist, wenn es nur ein Trick ist, ein verdammter Trick des Nazi-Packs? Lautsprecher, gut versteckt in den Ruinen, Tonbänder mit den alten Reden der braunen Bonzen? Destabilisierung durch Mythenbildung … Der Führer lebt und das Tausendjährige Reich wird wiederauferstehen und der ganze Dreck …«
Splitz zog an seiner türkischen Zigarette und fixierte ihn mit starrem Blick. Spott blitzte in seinen Augen auf; Spott – und noch etwas anderes. Furcht vielleicht? fragte sich Gulf. Resignation?
»Wir haben daran gedacht«, bestätigte Splitz. »Natürlich haben wir zuerst an einen schmutzigen Trick Bormanns und der ODESSA geglaubt. So etwas schien zu ihnen zu passen. Wir haben Köln abgeriegelt und durchsucht; jeder Stein wurde umgedreht. Ohne Erfolg. Hitler und Göring, Goebbels und Himmler sprachen weiter. Wenn die Nacht begann, schwatzten und zankten sie, ignorierten alle Fragen, und vor allem drohten sie. In jeder Nacht neuer Haß und neue Drohungen, schreckliche Drohungen aus dem Nichts, der Finsternis … Und dann war da noch die Sache mit Elizabeth.
Als wir uns an die Sache mit den Kletten erinnerten, als wir dann feststellten, daß die Datenspeicher der Kletten leer sind, daß es Ihre tote Frau ist, die zu Ihnen spricht – da wußten wir, daß die Stimmen in Köln kein Trick der Nazis sind. Denn wenn Elizabeth tot ist, ohne tot zu sein, warum nicht auch Hitler oder Goebbels?«
Gulf lehnte sich zurück. Er sagte nichts und versuchte, sich Köln vorzustellen: Straßenpflaster, geborsten und bemoost; Pilzkolonien in schattigen Hinterhöfen; Birken und Eiben zwischen ausgebrannten Häuserstümpfen; Disteln und Brennesseln und dichtes Brombeergestrüpp vor verwitterten Gemäuern. Vogelgezwitscher und raschelndes Laub und das träge, gleichgültige Rauschen des Rheins mit seinen eingefallenen Brücken, in Stücke gebrochen, eingeknickt. Kantige Schatten im Zwielicht der Abenddämmerung. Und aus den grünen, langen Haarschöpfen der Trauerweiden heisere Stimmen, das boshafte Gezänk alter, verrückter Männer, hohles Geraune aus grabestiefer Vergangenheit, Moder, tausend Jahre alt …
Und dann sah er, wie die Soldaten und CIA-Agenten die Köpfe drehten, wie Splitz unwillkürlich vor ihm zurückwich, als klar und fein die Stimme der Elektrischen Klette erklang.
»Manchmal, Jakob«, sagte Elizabeth, »manchmal in den Nächten, jenen Nächten voller Warten und Tränen, während du neben mir
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