Stimmen
Worte erhalten hatte, war ich mit den Nerven am Ende. Ganz allein rannte ich los, aus dem Graben heraus. Einige aufmerksame Freunde reagierten schnell, packten mich bei den Knöcheln und zerrten mich in den Graben zurück. Ich habe mich nicht bei ihnen bedankt.«
Schelling strich Sandaji, die leise in ihr Taschentuch schluchzte, über die Schulter. »Nach einigen Tagen waren die Wiedergänger fast nur noch als huschende Schatten oder Umrisse auszumachen, so als müssten sie noch einen weiteren Zyklus der Verwesung durchlaufen. Vielleicht war das Schrecklichste daran, dass sie mittlerweile dunkle Wesenheiten anzogen – gespenstische Würmer, düstere Erscheinungen, die sich auf sie stürzten, wie Schwingen ohne Körper.«
Jetzt hatte Schelling Peters ganze Aufmerksamkeit. Er konnte sich dem Bann dieser Erzählung nicht entziehen, ja nicht einmal mehr bewegen.
»Nach einem Tag heftigen Artilleriefeuers hörten wir nachts in den Gräben das laute Schreien und Stöhnen der Verwundeten. Es drang von der deutschen Seite herüber, es mussten Hunderte sein. Und zwischen diesen Schreien hörten wir alle – alle, die in diesen Gräben lagen, vielleicht auf beiden Seiten –, ein unbeschreibliches Pfeifen. Es klang so, als hätten sich Vögel in langen Stahlrohren verfangen. Im Dunkeln, bei dem schrecklichen, grellen Licht der Leuchtkugeln, die an Fallschirmen heruntergingen, sahen wir Schatten ausschwärmen und die Wiedergänger peinigen. Es gab kein Entkommen. Dieses Grauen hielt die ganze Nacht an; niemand wagte zu schlafen, es war die schrecklichste Nacht in einem unglaublich schrecklichen Krieg. Und dennoch ging auch diese Nacht zu Ende. Die Lebenden hielten durch. Und als der Morgen anbrach, war der ganz Spuk vorüber.
Während des ganzen Krieges blieb all das eine einmalige Episode; weder ich selbst noch die anderen jungen Männer haben derart seltsame Dinge ein zweites Mal erlebt. Aber jetzt ist diese Zeit erneut angebrochen, wirkungsvoller und seltsamer als je zuvor. Denn mittlerweile haben wir alle Geistererscheinungen – und nicht nur auf den Schlachtfeldern. Hab ich Recht, Mr. Russell?«
Peter, der die Kiefer so fest zusammengepresst hatte, dass ihm der Kopf wehtat, barg Schläfen und Schädel in den Händen.
Schelling fühlte sich durch Peters Reaktion ermutigt. »Alle, die diesen furchtbaren Krieg überlebten, waren bei ihrer Heimkehr gebrochene Menschen. Auf diese oder jene Weise. Ihr Leben hatte sich verändert, und nicht zum Guten. Ich habe mir einzureden versucht, meine Erscheinungen seien nur durch den Wahnsinn des Krieges ausgelöst worden. Aber wo immer ich später auch landete, selbst noch nach dreißig, vierzig Jahren, tauchten die Gesichter der Toten in meinen Träumen auf. Hin und wieder, ganz selten, begegnete ich ihnen auch auf der Straße, wo sie, völlig verloren, nach etwas suchten und mich aus leeren, lebensgierigen Augen ansahen, als könnte ich ihnen helfen.
Ich weiß nicht, warum mir Sehergaben gewährt wurden, aber manchmal frage ich mich… ist es deshalb, weil ich Zeuge eines Vorgangs wurde, den kein Lebewesen jemals miterleben sollte? Weil ich zusehen musste, was aus uns wird, wenn wir sterben? Und wie wir ein zweites Mal sterben?«
Schelling sah mit zusammengekniffenen Lippen zu Peter hinunter. »Verwechseln Sie Tod nicht mit dem Schlaf, Mr. Russell«, sagte er mit seiner Stentorstimme, die allmählich heiser wurde. »Eher ähnelt der Tod einer Geburt. Es ist ein langwieriger, schwieriger Prozess, bei dem man Wärme für etwas aufgibt, das man nicht kennt. Die Lebenden umgibt ein zum Verzweifeln schöner Glanz, und eine Zeit lang glauben die Toten, dass sie in dem Spiel immer noch mitmischen. Sie klammern sich an jede Erinnerung ihres Lebens – je deutlicher und stärker sie ist, desto besser. Die Toten trauern. Sie trauern um die Lebenden und das, was sie verloren haben, ihr Zuhause, ihr Hab und Gut, ihre Lieben, um alles, was ihren Platz in dieser Welt bestimmt hat. Ihr kummervolles Verlangen bindet sie an die Erde. Und deshalb muss man sie abschütteln, wie Fetzen abgestorbener Haut.« Bei diesen Worten zitterte er so heftig und unvermittelt, dass er seine Teetasse umwarf. Sie fiel zu Boden, zerbrach aber wundersamer Weise nicht. Mit ächzenden Gelenken beugte er sich langsam vor, um sie trübselig zu betrachten. »Falls Sie selbst solche Dinge gesehen haben, verstehe ich völlig Ihr Widerstreben, darüber zu sprechen.«
Nachdem Sandaji ihm die Tasse wieder gereicht hatte,
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