Stimmen
Menschen, die Kummer haben.«
»Auch Krankenhäuser und Ärzte nehmen Geld«, erwiderte Sandaji. »Auch ich behandle Krankheiten, nur sind sie anderer Art.«
»Nun ja, und Sie kleiden Ihre Therapie in aufgesetzten Charme und geheuchelte Pietät. Mag sein, dass ich Ihnen deshalb nicht traue.«
Schelling schien drauf und dran aufzustehen, um seine Ex-Frau zu verteidigen, doch Sandaji legte ihm beruhigend die Hand aufs Knie, ehe das Gelenk herausspringen konnte. »Ich verdiene meinen Lebensunterhalt damit«, sagte sie mit flackerndem Blick. »Ich glaube an das, was ich den Menschen sage. Ich lindere tatsächlich ihre Schmerzen und gebe ihnen Frieden. Und wovon leben Sie, Mr. Russell?«
»Ich mache Fotos von nackten Damen«, erwiderte Peter. »Und Filme.«
Schellings Kiefer sackte herunter. Er hatte auffällig ebenmäßige, gelblich verfärbte Zähne, offenbar alle noch seine eigenen. »Ist ja nicht zu fassen«, sagte er und wandte den Blick entrüstet oder vielleicht auch peinlich berührt ab.
»Aha«, stellte Sandaji völlig ungerührt fest, so als hätte er ihr gerade mitgeteilt, er sei Anwalt. »Weißt du noch, wie ich für deine Boxkamera posiert habe, Edward?«
»Wir kommen vom Thema ab«, mahnte Schelling.
»Wie alt warst du damals, mein Lieber?«
»Zweiundsechzig«, erwiderte Schelling, dessen Adamsapfel auf und ab hüpfte.
»Eine wunderbare Zeit«, sagte Sandaji. »Ich war damals noch recht jung und schön. Und du, mein Lieber«, sie strich Schelling wieder übers Knie, »warst ganz schön durchtrieben, genau wie ein anderer Edward, den ich mal gekannt habe, der Fotograf Edward Weston. Ihre Bilder, Mr. Russell, sind was für junge Männer, denen es an weiblicher Gesellschaft mangelt.« Wie ein Schulmädchen sah sie zu Peter auf. »Fördern wir nicht beide Träume von Glück?«
Peter war nur zu bewusst, wie es wirken musste, dass er so mit verschränkten Armen und vorgerecktem Kinn in Il-Duce- Posi-tur dastand – ein ergrauender Dschinn in Hawaii-Hemd und vom Regen durchnässtem beigefarbenem Jackett. Sie durchschaute ihn völlig und ließ es ihn auch merken. »Ich diene der Kunst um ihrer selbst willen«, sagte er.
Sandaji lachte. Gleich darauf stimmte auch Edward, der den Blick immer noch abgewandt hatte, in ihr Gelächter ein. Peter bemühte sich, ernste Miene zu bewahren, aber die Spannung, die ganze Situation – und Sandajis Charme – lockten ihn aus der Reserve. Mit Michelle hatte er bereits einen Anfang gemacht; warum sollte er nicht auch diesen beiden ungewöhnlichen, antiken Figurinen alles erzählen? Weil sie auch nicht besser sind als die Leute, die einem aus der Hand lesen. Da darfst du nie mehr landen, es würde dich umbringen.
Und trotzdem bist du hier und hast dir dies alles selbst eingebrockt.
»Vielleicht tut Mr. Russell ganz recht daran, uns nicht zu trauen, meine Liebe«, sagte Schelling. »Was hätten wir ihm anzubieten, das ihm weiterhilft?«
»Mr. Russell muss mit irgendjemandem darüber reden, und zwar bald, sonst platzt er noch«, erwiderte Sandaji. »Aber vielleicht sollten wir beide den Anfang machen.«
»Das haben wir doch bereits getan, oder nicht?«, fragte Schelling verblüfft.
»Wir haben nicht an dem Punkt angesetzt, an dem es bei dir begonnen hat, mein Lieber. Und wie lange hat’s bei dir gedauert, bis du mit dieser Geschichte herausgerückt bist?«
»Jahrzehnte«, erwiderte Schelling, dessen Kiefer mahlte.
Jean Baslan, die zwischenzeitlich ins Haus gegangen war, kehrte mit einem Tablett zurück, auf dem eine Teekanne im gestrickten Wärmer und vier Tassen aus feinem Porzellan standen.
»Offensichtlich verstehen Sie was vom Leben«, sagte Sandaji zu Peter. Lautlos stellte Jean Baslan das Tablett auf einem kleinen Tisch aus Sandelholz ab. »Und was wissen Sie vom Tod?«
•
Es dauerte nicht lange, bis sich der Regen, anfänglich ein Nieseln, zu einem kräftigen Schauer auswuchs, der das Teehaus einhüllte und laut aufs Dach prasselte. Vom Rand der Dachziegel und von der Rinne aus ergossen sich Kaskaden von Regenwasser auf den Boden, sammelten sich zu aufgewühlten Pfützen und fegten das Schwertgras und den Papyrus nieder. Seit Monaten hatte es nicht mehr so heftig geregnet.
»Ich habe meine Tochter verloren und gerade meinen besten Freund bestattet und weiß trotzdem kaum etwas über den Tod«, sagte Peter schließlich, während er die kräftigen, fleischigen Finger an der Teetasse wärmte.
»Ich auch nicht«, erwiderte Sandaji. »Aber
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