Stimmen
sahen beide sinnierend zu einer Steinlaterne direkt vor dem Teehaus hinüber. Es wurde jetzt schnell dunkler. Der Regen tropfte nicht mehr so heftig und hörte schließlich ganz auf. Automatisch schalteten sich rund um die wohl gepflegten Büsche die Lichter im Garten ein, und schließlich flammte auch die Laterne auf.
»Bitte sagen Sie uns, was Sie wissen«, ermutigte ihn Sandaji. »Es könnte überaus wichtig sein.«
Peter verrenkte sich fast den Hals, um zum Himmel, der immer dunkler wurde, und zu den wenigen Sternen hinaufzublicken. Er fragte sich, was er gleich tun und welche Folgen es nach sich ziehen würde. Dachte an Michelles Misstrauen und Josephs körperlichen und seelischen Verfall.
Ich hab sie gesehen, das weiß ich genau. Ich bin nicht verrückt. Es liegt nicht nur daran, dass mich der schlimme alte Kummer wieder gepackt hat.
Sie ist wirklich da gewesen.
Er ballte so heftig die Fäuste, dass Schelling und Sandaji zusammenzuckten, denn es wirkte wie die Drohgebärde eines Gorillas. »Es schmerzt zu sehr, wenn man’s wirklich glaubt.«
»Wie wär’s mit der Wahrheit?«, fragte Sandaji.
Peter rümpfte die Nase. »Die Wahrheit ist der Jäger, der einen zur Strecke bringt. Die Wahrheit ist das, was einen umbringt, wenn man die Lebenslügen aufgibt.«
»Eine scharfsichtige Beobachtung«, sagte Sandaji. »Aber muss das unbedingt Ihr letztes Wort sein? Wenn Sie bereit sind…«, begann sie, aber Peter fiel ihr ins Wort.
»Für was halten Sie diese Schatten?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Schelling.
»Falls sich Erinnerungen wie abgestorbene Haut von einem lösen…«, sagte Peter, »nun ja, es gibt Käfer, die abgestorbene Haut fressen, nicht wahr?«
Sandaji bedachte ihn mit einem angewiderten Blick.
»Es könnten Aasfresser wie Ratten oder Aale sein. Oder auch Würmer oder Aasgeier, wie Sie vorhin sagten«, stellte Peter mit ruhiger Stimme fest.
»Also haben Sie es tatsächlich miterlebt«, bemerkte Sandaji.
»Es könnten auch Wesenheiten sein, die trotz des äußeren Scheins Freunde sind«, meinte Schelling. »Opfern kann auch befreien bedeuten, Mr. Russell. Wir reden hier über einen Vorgang und eine Situation, über die wir so gut wie gar nichts wissen. Wenn wir also Schlüsse daraus ziehen, werden sie zwangsläufig mit Fehlern behaftet sein. Und falls wir uns einmischen, wird das zwangsläufig zu Katastrophen führen.«
Mittlerweile war es fast dunkel. Peter musste jetzt unbedingt nach Hause fahren, um seine Tochter vor den Schatten zu beschützen. Um sich wieder dem eigenen Wahnsinn zu überlassen. Doch er konnte seinen Körper nicht dazu bringen, sich zu rühren. Also blieb er sitzen. Was immer aus ihr geworden war: Daniella war jetzt in Gefahr – und gefährlich für ihn selbst.
Ich weiß nicht, wie ich ihr helfen kann.
Nachdem sich die Grillen davon überzeugt hatten, dass es mit dem Regen aus und vorbei war, stimmten sie im Garten ihr Zirpen an.
»Gehen wir mal davon aus, dass ich Ihnen glaube«, sagte Peter mit rauer Stimme. »Gehen wir davon aus, dass ich auch selbst solche Dinge gesehen habe. Was kann den Wandel verursacht haben? Und wie können wir den Toten helfen, zu entkommen, weiterzuziehen oder was immer sie tun müssen?«
Angesichts dieses Durchbruchs bei Peter strahlte Sandajis Gesicht auf, wurde aber gleichzeitig wieder traurig, weil ihr bewusst war, welcher Kummer damit verbunden sein mochte.
»Das ist schwer zu vermitteln«, erwiderte Schelling. »Wenn wir sterben, schütteln wir all unsere Erinnerungen auf einen Schlag ab – das auf Zeit angelegte psychische Äquivalent des physischen Körpers. Aber eingebettet in diese so genannte immaterielle Hülle ist noch etwas anderes, das nicht auf eine bestimmte Zeit befristet ist. Letztendlich verschwindet auch das, allerdings nicht immer unmittelbar. Bei all meinen Erfahrungen mit spirituellen Dingen ist es mir nur zwei Mal begegnet, aber es hat einen nachhaltigen Eindruck bei mir hinterlassen: Es ist eine Art goldener Glanz, als vollzöge sich im Innern ein Sonnenuntergang.«
»Um was handelt es sich dabei?«, fragte Peter.
»Einige Leute nehmen an, dass so mancher Geist, gefangen in seinen Erinnerungen wie ein Vogel im Dornbusch, seine Seele auch weiterhin mit sich herumschleppt. Es mag sein, dass ein Trauma, verursacht durch Krieg oder andere Gewalttaten, die Erlösung verzögert. Oder dass diese Geister nicht loslassen können, weil wir uns mit allzu heftigen Gefühlen an unsere Lieben erinnern. Dieser
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