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Stimmen

Stimmen

Titel: Stimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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Edward.«
    Durch dünne graue Wände herabstürzenden Wassers von der Welt isoliert und Jasmintee schlürfend, fühlte sich Peter wie ein kleiner Junge. Trotz aller Bedenken ließ er sich im Schneidersitz auf dem Kissen vor Schelling nieder. Allmählich wurde ihm bewusst, dass er diese beiden Menschen eigentlich sehr mochte, ihnen vielleicht sogar trauen konnte.
    Wem er nicht traute, nie wieder trauen konnte, war er selbst. Diesem Ego mit all seiner Fehlbarkeit, all seinen Schwächen angesichts letzter Dinge.
    »Sag Mr. Russell als Erstes, wie alt du bist, Edward«, schlug Sandaji vor.
    »Ich habe heute Geburtstag«, erklärte Schelling mit breitem Lächeln. »Bin hundertfünf Jahre alt geworden.«
    Peter war genau so beeindruckt, wie es von ihm erwartet wurde. Er konnte sich nicht vorstellen, jemals so alt zu werden. Es war ja schon schwer genug, sich das eigene Lebensalter von achtundfünfzig Jahren vorzustellen.
    Sandaji strahlte Schelling an. »Und jetzt erzähl Mr. Russell von Passchendaele.« Sie stupste ihn am Ellbogen, als wollte sie einen Kassettenrekorder in Gang setzen.
    »Ich habe mal einen Mann gekannt, der in Frankreich den Ersten Weltkrieg mitgemacht und überlebt hat«, begann Schelling mit seiner Geschichte. »Selbstverständlich war ich selbst dieser Mann, jedenfalls in gewisser Hinsicht. Aber dieser schmucke Junge voller Idealismus bin ich längst nicht mehr; verzeihen Sie mir also, dass ich nicht in der ersten Person erzähle. Dieser junge Mann also erlebte unsägliche Kriegsgräuel mit, eines schlimmer als das andere. Er sah Tausende sterben. Wochenlang lag er mit seinen Kameraden in schlammigen Gräben, nur Meter von den Leichen der Freunde entfernt, die schon seit Stunden oder Tagen tot waren, niedergemäht in der endlosen Folge vergeblicher Vorstöße. Als die Leichen sich aufblähten und von Ratten angenagt wurden, gaben die Überlebenden ihnen komische Namen, machten Witze und schlossen Wetten darauf ab, wann diese oder jene aufgrund der Verwesung platzen oder von einem Granatwerfer zerfetzt werden würde. Das alles diente dazu, sich gegenüber den Schrecken abzustumpfen. Eine Zeit lang klappte das auch. Menschen können erstaunlich viel von sich abprallen lassen.
    Doch nach einer Woche schlug das Klima um… und ich meine damit nicht den Regen, der auch weiter als Dauerregen niederging, sondern etwas anderes. Dieser junge Mann war der Erste, der die Veränderung bemerkte, vielleicht weil er immer ein bisschen empfindlich reagierte. Anfangs sah er, wie sich Schimären, die Nebelwirbel ähnelten, über die Felder bewegten, bis in die Gräben hinunter. Später am Abend konnte er die Silhouette eines längst gefallenen Freundes ausmachen; die Körperhaltung, in der er dastand, war ihm vertraut. Während er schlief, hatte er den Eindruck, dass ein nur in Umrissen angedeutetes Gesicht über ihm schwebte und ihn aus leeren Augen flehend ansah. Sporadisch bemerkte er auch ganze Gestalten – die Gestalten toter Kameraden, die zurückkehrten und zwischen den Lebenden herumspazierten. Sie wirkten nicht weniger real als die Soldaten, die leibhaftig im Feld lagen, und setzten alles daran, normal zu erscheinen und das zu tun, was sie immer getan hatten. Erinnerungen sind zäh, Mr. Russell. Sie sind der Klebstoff, der das Universum zusammenhält, und binden die Toten an ihre Freunde und Familien… jedenfalls für eine gewisse Zeit.
    Auch andere haben diese Toten gesehen. Einige der Mutigeren versuchten, Gespräche mit ihnen anzufangen, vielleicht weil sie davon ausgingen, dass die Regeln der Normalität in dieser Hölle sowieso nicht mehr galten – ich meine damit Klassenzugehörigkeit und Etikette, Grausamkeit und Freundlichkeit, die Trennung von Lebenden und Toten. Anfangs reagierten die Wiedergänger nicht darauf. Sie waren leere Hüllen, die nur selten sprachen. Und wenn sie es taten, wiederholten sie nur das, was man zu ihnen gesagt hatte, mit seltsamen Wortverdrehungen.«
    Schelling starrte in den Regen hinaus. Seine Hand, die über der Stuhllehne hing, zitterte. »Das ist nicht gut«, bemerkte er. »Die Erinnerung ist allzu plastisch… Nun, letztendlich untergrub das Zusammensein mit diesen seelenlosen Gespenstern den eigenen Lebenswillen. Nachdem ich an einem Abend lange versucht hatte, einem meiner früheren Kameraden eine Antwort zu entlocken – seinen Leichnam konnte ich deutlich sehen, er hing etwa dreißig Meter entfernt im Stacheldraht fest –, und nur traurige Echos meiner eigenen

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