Stimmen
ohne Gewissen. Hemmungslose Neugier, Wissbegier ohne jedes Abwägen. Um mit allen ein Spielchen zu treiben.
Auch mit Daniella.
Die Trans-Apparate funktionieren in Salammbo nicht, jedenfalls nicht innerhalb der Gebäude.
Weil die Verbindungen hier bereits belegt sind.
Von wem oder was?
Mein Gott, das alles kann ich doch gar nicht mit Bestimmtheit sagen, versuchte Peter sich einzureden. Aber der Versuch, Zuflucht in Unwissenheit zu suchen, war zum Scheitern verurteilt. Er hatte das Mosaik Stück für Stück zusammengesetzt. Mit Josephs Hilfe, der Hilfe eines Toten.
Joseph. Daniella. Das Zerren, der Zwang, den sie ausüben. Von sich aus können sie nicht sprechen; kein Hauch von ihnen rührt die Luft auf. Sie sind kaum mehr als irgendwelche Fetzen Papier, aber deine Erinnerungen locken sie an. Mit deren Hilfe saugen sie die Lebenskraft aus dir heraus. Denn sie möchten gern so sein wie wirkliche Menschen. Und das können sie nur, wenn du sie siehst und dich an sie erinnerst.
Jetzt fügte sich alles zusammen. Es musste so sein. Trans hielt fest, was gemäß jeder natürlichen Ordnung hätte weiterziehen sollen, um sich aufzulösen und zu zerstreuen. Banales, alltägliches Geschwätz warf diese Ordnung über den Haufen und verhinderte später auf ganzer Linie, dass die Toten verschwinden konnten. Alltägliches Geschwätz sorgte dafür, dass eine Sphäre, eine Ordnung, sichtbar wurde, die nicht für die Augen der Lebenden bestimmt war.
Mit einem Mal spürte er, wie sich die Last der Erkenntnis schwer auf seine Schultern senkte, und das stellte ihn unvermeidlich vor die nächste Entscheidung: Was folgte daraus? Was sollte er tun? Was konnte überhaupt noch jemand unternehmen?
Peter hatte sich selbst stets als unbedeutenden, wenn auch irgendwie begabten Menschen betrachtet. Charmant, bis zu einem gewissen Punkt. Nicht aufdringlich. Kein großer Kopf. Auch kein Held. Schließlich war er am ganz normalen Leben – einem Leben, zu dem Sex, Freundschaft und Ehe gehörten – gescheitert, obwohl es ihn anfangs so gereizt hatte.
Langsam atmete er ein und aus.
Diebe. Mehr waren sie nicht. Diebe.
Und mit Dieben wusste er doch umzugehen, nicht wahr? Diebe waren ihm zuwider.
»Hilf mir«, bat er leise.
•
Am Fuß der Treppe angekommen, sah Peter, dass die Flure des Erdgeschosses dunkel waren. Aber als er sich umwandte und erst nach links, dann nach rechts blickte, gingen die Lichter in beiden Außenbereichen gleichzeitig an und drangen kurz darauf bis zum Atrium vor. Die Helligkeit, die in Peters Richtung flutete, erfasste Wände und Gemälde, verschlossene Türen und flauschige Wollteppiche. Und auf beiden Seiten der Flure bewegten sich, unsichtbar fürs Auge, Wesen entlang, die nicht mehr ihrer natürlichen Bestimmung folgten, nicht mehr nach und nach verblassten, sondern, im Gegenteil, ebenso zielstrebig wie wirkungsvoll agierten.
Peters Schädel begann zu pochen. Er ertappte sich dabei, dass er mit den Zähnen knirschte, und merkte, wie seine Kehle eng wurde; sie wollten ihn benutzen, alle von ihnen gleichzeitig. Er griff sich an den Hals, klopfte leicht dagegen und drehte sich dann um, um loszurennen, aber plötzlich verschwamm der Fußboden zwischen ihm und der Haustür vor seinen Augen und kräuselte sich wie Wasser. Über die Mamorfliesen hatten sich Schatten gelegt: hin- und herpendelnde Schlangen, Wellen ohne feste Form, die rasch vordrangen und so weit empor stiegen, bis sie Wände und Fenster überflutet hatten. Gleich darauf wirbelten sie herum und streiften ihn so unbekümmert und auf Kontakt aus, als wäre er ein guter Bekannter.
Es waren die Obdachlosen, die ihr Zuhause auf immer und ewig verloren hatten; die Bettler, die am schlimmsten dran gewesen waren; die Toten, deren Leben schon vor langer Zeit ein Ende gefunden hatte: Michelles Opfer.
Wie viele?
Mit einem summenden Geräusch, das wie ein Kichern klang, glitt die Tür des Fahrstuhls zur Seite. Innen verströmte eine einzige nackte Glühbirne ihr orangefarbenes Licht. Der winzige Käfig senkte sich ein wenig, vibrierte kurz und stieg wieder auf gleiche Höhe mit dem Fußboden, als wäre irgendjemand oder irgendetwas eingestiegen.
Etwas Massiges, das unsichtbar blieb.
»Nein, ich steig auf keinen Fall ein«, erklärte Peter. »Fahr zur Hölle.«
»Hölle«, wiederholte jemand, der Peters Kehlkopf benutzte.
»Hölle«, echote ein anderes Wesen, »Hölle«, stimmte ein drittes ein. Sie nahmen seine Stimmbänder so heftig in Beschlag,
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