Stimmen
Erscheinung. Meine hübsche kleine Maske, Peter.«
»Oh.« Er musste unbedingt Klarheit in seine Gedanken bringen. »Daniella war doch nur ein kleines Mädchen.«
»Aber mein Reittier hat gemerkt, wie sehr du dieses kleine Mädchen geliebt hast, und hat geweint, wenn es daran gedacht hat. Es hatte keinen so liebevollen Vater. Und dieses Gefühl… dieses Gewirr von Gefühlen stand mir irgendwann im Weg.«
»Ich kapier’s noch immer nicht.«
»Ich weiß, dass wir ins Gefängnis kommen, Peter. Im Knast wird’s ganz toll sein. So viele Pferde ohne Reiter. So viele Masken, die man aufsetzen kann.«
Er zitterte vor wildem Zorn und echter Panik, die er bis in seine Eingeweide spürte, und schaffte es kaum noch, das Handy fest zu halten oder gar zu reden. Sie könnte überall sein. Sie steht vor der Tür.
»Sag mir, warum du Daniella ermordet hast.«
Michelle wirkte gereizt und seufzte gleich darauf. »Es gab nur zwei Männer, die mein Reittier liebte und denen es vertraute. Einer davon war Joseph, der andere warst du. Mein Pferd sieht in allen Männern nur den Vater und die Brüder. Und es wurde von allen Männern enttäuscht.«
»Das ist doch völliger Quatsch.«
»Aber es stimmt.«
Rings um ihn herum schien der Raum zu schwanken. Er griff sich mit einer Hand an die Stirn und blickte, benommen vor rasender Wut, zu Boden. »Wenn ich dich finde, bring ich dich um.«
»Nun ja, das wird dir nicht gelingen, Dummkopf. Jetzt sind ja nur noch wir hier, und uns macht das nichts aus. Vielleicht nimmst du wirklich Rache und kehrst dabei dein Innerstes nach außen, so dass du danach tief drinnen ganz leer bist. Und dann könnte es passieren, dass ich dich zureite. Und falls uns die Polizei findet, wird es im Knast ganz reizend sein. So viele von uns, alle an einem Ort, wie ein großes Familientreffen. Arme Michelle. Auf Wiedersehen, Peter.«
Das Gespräch war beendet. Bestürzt blickte Peter auf das kleine, grüne, makellose Display des Handys. Wie leicht es inzwischen war, irgendetwas daherzureden, egal, wo man war, egal, wer man sein mochte.
Kapitel 40
Während er die Treppe zum Salon im Erdgeschoss hinunterging, funktionierte sein Hirn so kühl und beständig wie ein Stahlpendel, das zwischen zwei Polen hin- und herschwingt. Seine Pole waren die schlimmsten Tatsachen der gegenwärtigen Situation. Er musste sich mehreren Entscheidungen stellen, die keinen Aufschub duldeten: Zunächst war da die Frage, ob er die Polizei verständigen sollte. Falls er den Beamten wahrheitsgemäß Auskunft gab, würde ihm niemand glauben – es sei denn, auch die Polizisten hätten mit eigenen Augen gesehen, wie Trans Telefonverbindungen vor Ort in ein Netz des Todes verwandelte.
Schlaue Idee. Die Verbindungen, die die Toten benutzten, waren zwar keine Telefonleitungen im herkömmlichen Sinn, dennoch Kanäle der Kommunikation. Instrumente, die sie zur Flucht, zur Verbreitung, zur Durchreise nutzten – was immer mit den Erinnerungen, Erfahrungen und Wesenheiten geschehen mochte, die nach dem Tod zurückblieben. Arpad hatte diese Bahnen entdeckt, eine brillante Leistung, später jedoch die falschen Schlüsse daraus gezogen. Peter fiel wieder das denkwürdige Gespräch ein, in dem Arpad verkündet hatte: »Trans erreicht Dimensionen unterhalb unserer Welt, greift tiefer als Netzwerke, die von Atomen und noch winzigeren Teilchen benutzt werden, bis dorthin, wo es sehr still ist.«
Offenbar doch nicht so still wie angenommen. Selbst eine kleine Interferenz erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass bei den Toten etwas zündete, hatte zur Folge, dass die armseligen Fetzen ihrer Erinnerung noch ein bisschen länger verweilten, vielleicht sogar sehr viel länger. So lange, bis die Wesenheiten der Toten die Erde füllen würden, ein Festmahl für die Schatten, die Aasfresser. Und dabei weit Schlimmeres anzögen als Staubmilben, Würmer oder Aale: Löwen, Hyänen, Bären, Haifische. Riesige Aasfresser, die man selten sah. Die nur in Zeiten entsetzlicher Kriege auftauchten oder sich im Wahnsinn gewaltiger menschlicher Umwälzungen tummelten, um die atmosphärische Veränderung für sich zu nutzen.
Die blinkende Diode, das unsichtbare Wesen am Fuß der Treppe, das die Größe eines Grizzlybären gehabt hatte: ein Jäger auf der Pirsch. Etwas, das noch schlimmer war als die widerliche Opportunistin, die in Michelle eingedrungen war, sie lenkte und ihr Reittier nannte. Und die sich so geschickt als menschliches Wesen aufspielte.
Intelligenz
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