Stimmen
erkennen.
Peter blickte hinunter.
Beugte sich vor.
Sah noch näher hin, weil er seinen Augen nicht traute.
Gespenstische Fetzen, die wie Plastikhüllen oder geplatzte Luftballons flatterten, pressten sich ans Linoleum. Obwohl sie keine stoffliche Substanz besaßen, hingen sie hier fest. Flach gewalzte Teile von Gesichtern, nach oben gestreckte Hände, Finger, die sich wie in einem Krampf krümmten. Leere Augen in leeren Hüllen. Hauchdünne Überreste der Fressorgien, die die Aasfresser hier in Hülle und Fülle hatten veranstalten können. An diesem Ort zerfielen die Reste zu einem Staub, der für niemand mehr genießbar war. Irgendwann würde er durch diese Räume fegen, hinauf in die Welt. Und sich dort in flüchtige Eindrücke, seltsame Bilder verwandeln, die, wie Rosinen im Kuchen, von Träumen hängen blieben. Unzusammenhängend, aus sich heraus gar nicht zu begreifen. Splitter der Inspiration und Hoffnung. Scherben des Mosaiks aus Erinnerung und Gestalt.
Welcher Besen sollte das wegfegen? Welcher Wind? Diesen Dingen können wir niemals entkommen. Wir treiben unser ganzes Leben lang darin herum, ohne je mit Sicherheit sagen zu können, woher diese Bilder und Eindrücke kommen. Darin ähneln sie dem Staub, den unsere Lungen einatmen. Man versucht das Phänomen zu benennen, indem man es als übersinnliche Wahrnehmung oder Erinnerung an ein früheres Leben charakterisiert… Trans hat es lediglich sichtbar gemacht.
Peters Entsetzen war wieder einmal an einer Klippe der Vernunft zerschellt. Die philosophische Betrachtung war ihm zu Hilfe gekommen. Ja, er würde sterben; ja, er hatte unvorstellbar Entsetzliches erlebt und würde wohl bald weiteren Schrecken ins Auge sehen. Teilchen dessen, was er war, würden irgendwann ebenfalls zu diesem Mosaik, zu diesem Staub werden, daran bestand kein Zweifel. Verloren und vom Leben verraten. Na und? Unzählige Menschen waren diesen Weg vor ihm gegangen.
Wenn das Leben schon nicht einfach war, dann der Tod erst recht nicht.
»Bringen wir’s hinter uns«, sagte er laut und ging zum Rand des Bahnsteigs vor. Joseph, später auch Michelle, waren hier heruntergekommen, um gewisse Dinge zu verstecken. Er musste in Erfahrung bringen, worum es sich dabei handelte.
Wer es war. Wer noch, außer den beiden Dieben, die damit gedroht hatten, Joseph umzubringen? Er starrte in die Dunkelheit, die wenige Meter vom Bahnsteig entfernt herrschte. Entdeckte unter einigen aufgestemmten, verrosteten Schienen eine grob aufgetragene Schicht neueren Betons. Sie hatten die Schienen wieder an den alten Platz gelegt, aber sich nicht die Mühe gemacht, sie auch wieder zu verschrauben.
Schlampige Arbeit.
Kapitel 43
Die Schienen liefen schnurgerade ins Dunkle. Mit vorsichtigen Schritten ging Peter an den Gleisen entlang, die wie winzige Parodien echter Bahnschienen wirkten. Im Schotter zwischen den Schwellen hatten sich von grauem Schaum bedeckte Wasserpfützen gesammelt. Rauch hatte den bröckelnden Verputz der lang gestreckten Decke eingeschwärzt.
Auf beiden Seiten entdeckte er Haken, Stückchen von Draht und hellere Vierecke im Mörtel. Hier mussten früher Bilder gehangen haben, die den Rauch absorbiert hatten. Nur ein Gemälde hing noch da, allerdings war die Leinwand in der Mitte von oben bis unten zerfetzt. Es war das mittlerweile eingeschwärzte, lebensgroße Porträt eines Mannes, der wohl Lordy Trenton sein musste. Zwar trug er keinen Zylinderhut und war wie ein Zirkusclown geschminkt, aber an dem langen, schlanken Spazierstock des vornehmen Herrn und seinem Markenzeichen, den Gamaschen, deutlich zu erkennen. Unten am Bilderrahmen war ein Messingschild angebracht, auf dem zu lesen war: NIEMALS DIE WÜRDE VERLIEREN.
Mit seiner kurzen Nase und dem kleinen Ziegenbart, der trotz der weißen Maske und der roten Clownsbäckchen zu sehen war, wirkte Trenton durchaus vergnügt. Oder hätte so wirken können, wären da Augen gewesen. Jemand hatte sie herausgeschnitten, so dass nur viereckige Höhlen zurückgeblieben waren, durch die der weiße Mörtel hindurchschimmerte.
Jenseits des zerfetzten Porträts bemerkte Peter bräunliche Markierungen an den von Rissen durchzogenen und von Flammen versengten Wänden. Irgendjemand hatte hier die Kratzspuren von Tierklauen nachgeahmt, jeweils vier oder fünf vertikale Striche bildeten ein Muster. Aus flüchtig skizzierten Masken starrten spiralförmige Augen. Alles grob dahingeschmiert, möglicherweise mit Blut, das jetzt getrocknet war.
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