Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stimmen

Stimmen

Titel: Stimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
Vom Netzwerk:
Nerven zerrte.
    Ihre ausdruckslosen, leeren Augen pulsierten. Es kam ihm so vor, als blickten sie ihn nicht direkt an, sondern durch ihn hindurch auf einen Punkt hinter ihm. Dabei füllten sich die Umrisse der Erscheinung so auf, als würde ein Ballon aufgeblasen. Vorübergehend wirkte sie stofflich und wie das Ebenbild eines Menschen.
    Nein, es ist nicht Lydia, aber sie sieht aus wie sie.
    Als sie die Lippen bewegte, drangen die Laute mit Verzögerung an seine Ohren, als müssten sie erst eine Gelatineschicht durchstoßen. »Phil, wie konntest du mir das antun, wie konntest du einfach sterben?« Die Wehklage dieser hohen, weichen Stimme war kaum lauter als das Summen einer Fliege.
    Plötzlich schossen die aalglatten Schatten wie herabstürzende Raubvögel ins Zimmer. Er spürte, wie sie, kalten, klammen Fingerspitzen gleich, seine Schulter streiften. Gleich darauf fuhr die Gestalt zurück, sprang schneller als menschenmöglich zur Seite und versuchte zu flüchten, fand aber keine Rückzugsmöglichkeit. Das Ganze erinnerte an die Szene eines schlecht geschnittenen Films, in der eine miserable Schauspielerin Angst vortäuscht.
    Peter, dessen Mund völlig ausgetrocknet war, hätte am liebsten weggesehen oder sich die Augen zugehalten. Uralte, tief verwurzelte Instinkte verrieten ihm, dass er gleich etwas sehr Intimes miterleben, Zeuge von etwas sein würde, das nicht für das menschliche Auge bestimmt war. Dennoch konnte er den Blick nicht abwenden, denn er empfand ebenso viel Mitgefühl wie Neugierde.
    Die aalglatten Schatten schwärmten jetzt aus, quälten und durchbohrten die Erscheinung, bissen zu, schnappten sich die zerfetzten, zerbröckelnden Teile. In zaghafter Selbstverteidigung streckte sie die Hände vor und zitterte dabei so verblüffend echt, als empfände sie tatsächlich puren Schmerz. Was immer sie sein mochte: Ihre Zeit war abgelaufen. Während sich das Ebenbild Lydias verflüchtigte und langsam auflöste, verwandelte sich die Wehklage in verzweifeltes Geschrei, das blechern klang.
    Drastisch, als schälten sich einzelne Schichten voneinander ab, löste sich die Gestalt vor Peters Augen auf und zerfiel in Fetzen, wie in Wasser getauchter Zellstoff. Es dauerte nur Sekunden, bis von ihren Umrissen nichts mehr zu sehen war. Als sie ihr Ziel erreicht hatten, flohen die Schatten, versickerten wie Wasser zu seinen Füßen. Es erweckte den Eindruck, als schüttelte das Zimmer ihre letzten Spuren ab. Zurück blieben nur das ordentlich gemachte, unberührte Bett, der zerschlissene Teppich und leere Regale.
    Nachdem die Erscheinung – die Sinnestäuschung, das Spiegel- oder Ebenbild von Lydia, was immer es auch gewesen sein mochte – verschwunden war, lehnte sich Peter mit der Schulter gegen den Türpfosten. Er konnte sich nicht bewegen, im Augenblick nicht einmal den Kopf wenden. Ohrensausen und ein Wadenkrampf machten ihm so zu schaffen, dass er mit den Zähnen knirschte. Selbst in schlimmsten Zeiten, als der Kummer ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben hatte, war ihm nichts dergleichen je vor Augen gekommen.
    Ein derart jämmerlicher Anblick, eine Erscheinung, die aus irgendeinem Grund in dieser Welt zurückgeblieben war, weggeworfen wie ein altes Papiertaschentuch.
    Nach und nach beruhigte sich sein Herzschlag, auch die Hitze hinter den Augen schwand. Als er schließlich blinzeln musste und sich seine Augen einen winzigen Moment lang schlossen, bekam er plötzlich so schreckliche Angst, dass sich seine Halsmuskeln spannten und die Gedärme zusammenzogen.
    Aber nichts geschah, niemand berührte ihn, alles war still und friedlich. Das Zimmer lag unschuldig da.
    Eigentlich war ja auch gar nichts geschehen.
    Jedenfalls nichts Reales.
    Schließlich gelang es ihm, sich umzudrehen. Als müsste er das Gehen erst wieder lernen, streckte er vorsichtig den einen, dann den anderen Fuß vor und zog sich auf diese Weise langsam aus dem Schlafzimmer zurück, wobei er mit den tauben Fingern ungeschickt hinter sich griff, um die Tür zuzudrücken. Da die Kleiderbügel an der Tür klemmten, konnte er sie nicht ganz schließen und wollte sie wütend zuknallen. Einer der Kleiderbügel fiel hinunter und prallte scheppernd auf den Holzboden. Das Geräusch erinnerte ihn so sehr an die blecherne Stimme der Erscheinung, dass er erneut die Zähne zusammenbiss.
    Schließlich gab er den Versuch, die Tür zu schließen, endgültig auf. Während in seinen Beinen Ameisen kribbelten, schleppte er sich bis zum Sofa im Wohnzimmer, setzte

Weitere Kostenlose Bücher