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Stimmen

Stimmen

Titel: Stimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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sich und faltete die Hände im Schoß. Er versuchte erst gar nicht, sich zu entspannen, sondern blickte stattdessen quer übers Wasser auf den Rummelplatz namens San Francisco, wo es jetzt, in den frühen Morgenstunden, dunkler geworden war. Sein Hals war völlig verspannt und ließ sich nicht mehr lockern.
    Er war immer noch am Leben. Aber wenn er an das dachte, was er gerade gesehen hatte, wusste er nicht, ob ihm überhaupt noch daran lag.
     
    •
     
    Peter sah zu, wie sich das Licht der Morgendämmerung langsam über San Francisco ausbreitete und die Hügel im Osten in strahlendes Licht tauchte, das die Wolkenkratzer und Nebelbänke golden reflektierten. Für ihn war es der schönste Anblick überhaupt: Es wurde Tag.
    Schließlich rang sich sein Erwachsenen-Ich zu einem gewichtigen Schluss durch. Es gab nur eine mögliche Erklärung der Ereignisse und zwei Dinge zu erledigen. Es konnte nur ein Albtraum gewesen sein – und jetzt musste er etwas essen und duschen. Also ging er in die Küche, füllte eine Schüssel mit Cheerios, goss sie mit Milch auf, löffelte Flocken und Milch in sich hinein und kaute mechanisch. Die Milch war wohl schon seit Tagen im Kühlschrank und kurz davor, sauer zu werden, aber gerade noch genießbar.
    Danach zwang er sich dazu, im großen Badezimmer zu duschen. Argwöhnisch wie eine Katze um sich blickend, streifte er die Kleider ab, stieg in die Wanne mit den Löwentatzen, zog den Vorhang zu und gerade so weit nach innen, dass der Duschstrahl nicht auf den Boden spritzte, er aber die offene Badezimmertür im Auge behalten konnte. Das erforderte zwar enorme Willenskraft, aber es musste sein, hier und jetzt. Das Wasser war so heiß gestellt, dass es ihm den Rücken verbrannte. Phil hatte nichts von schwachen, lauwarmen Duschen gehalten und keinerlei Armaturen zur Regulierung von Temperatur und Stärke des Wasserstrahls installiert.
    Keine Sperrvorrichtungen à la Bergson.
    Während Peter sich mit Phils runder Seife der Marke Ivory schrubbte, versuchte er sich ins Gedächtnis zu rufen, was eine Bergson’sche Sperrvorrichtung überhaupt war. Er hatte den Ausdruck aufgeschnappt, als er in den Sechzigerjahren Die Pforten der Wahrnehmung von Aldous Huxley gelesen hatte.
    This is the end… beautiful friend.
    Aldous Huxley. Irgendetwas über Drogen, die Pforten öffnen. Oder waren es Sperrvorrichtungen gewesen, die man lösen musste, damit die Ströme der Realität frei fließen konnten? Sobald er wieder zu Hause war, würde er es nachschlagen. Möglich, dass auch Phil eine Ausgabe des Buches besaß.
    Nachdem er sich abgetrocknet hatte, kleidete er sich im Wohnzimmer an. Er zog seine gute Wollhose, ein langärmeliges schwarzes Hemd und das Jackett aus dem Ramschladen an, um fertig zu sein, wenn sie Phils Urne brachten. Oder wenn – und er wusste nicht, wie er darauf reagieren würde – die echte Lydia wieder auf der Veranda auftauchte.
    Während er die Schüssel in der Spüle abwusch, prustete er plötzlich vor Lachen, was allerdings nicht lange anhielt. Eigentlich war es ja auch gar nicht komisch, sondern traurig. »Mir erscheinen keine Gespenster, sondern lebende Menschen«, sagte er und prustete erneut los, bis er seine Brille abnehmen und sich Nase und Augen trocknen musste.
    Heute fand die Totenfeier für seinen besten Freund statt, und er konnte sich nicht einmal soweit zusammenreißen, dass er eine Nacht lang gut und fest schlief. Er hatte angefangen, Gespenster zu sehen, zwei Nächte hintereinander dasselbe Spiel. Vielleicht hoffte der durchgeknallte Peter, damit die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen? Der arme Peter, den der Verlust eines geliebten Menschen wieder mal in den Wahnsinn trieb.
    Wirklich traurig.
    Wie ein bedrohliches Wolkengebilde, das einen Sturm ankündigt, sammelte sich sein Selbsthass, um sich gleich darauf zu entladen und zu verschwinden. Normalerweise war Peters Grundstimmung eine verhaltene Art von Munterkeit, die zuweilen in große Energie umschlug. Dagegen dauerte es meistens lange, bis er jemandem irgendwelche Vorwürfe machte oder wütend wurde. Wenn sich die Dinge wirklich schlimm entwickelten, fiel er manchmal einfach in seine Grundstimmung zurück, ohne dass er eine Erklärung dafür hatte. Natürlich war das keine Lösung, die dunklen Wolken kehrten unvermeidlich zurück. Irgendwann würde er sich auch diesen neuen Problemen stellen müssen, allerdings nicht gerade jetzt.
    »Es kam mir aber gar nicht wie ein Traum vor«, gestand er sich ein, als er sich,

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