Stirb leise, mein Engel
Ordnung?«, fragte Androsch, während er sich Kaffee eingoss. »Oder soll ich lieber Sie sagen?«
»Mir egal.«
»Okay. Du kannst mich natürlich auch duzen, wenn du willst. Ich bin Joachim.«
Kein Bedarf, dachte Sascha und schaute verstohlen auf seine Uhr. Erst vier Minuten rum.
Androsch nahm einen Schluck Kaffee, dann lehnte er sich zurück, schlug die Beine übereinander und stützte den Ellbogen auf die Lehne des Sessels. Er trug ein langärmliges, weißes Hemd, an dem nur der oberste Knopf offen war, dazu eine schwarze Bundfaltenhose. Der breite Siegelring wirkte viel zu schwer für die schmale Hand. Ziemlich uncool, der ganze Typ, fand Sascha. Und das gab ihm irgendwie Sicherheit.
»Hab keine Angst«, sagte Androsch, »hier geschieht nichts, was du nicht willst. Du allein bestimmst, wo’s langgeht. Du bist der Fahrer, ich bloß der Beifahrer.«
Das wäre ja mal was ganz Neues, dachte Sascha.
»Natürlich erfährt niemand, was in diesen vier Wänden passiert, auch deine Mutter nicht. – Ein paar Dinge gibt es allerdings noch, um die ich dich bitten möchte. Du solltest immer pünktlich sein. Wenn du mal nicht kommen kannst, ruf vorher an und sag Bescheid. Es sollte auch nur ganz selten vorkommen. Versprichst du mir das?«
Sascha zuckte mit der Schulter. »Klar.«
»Die ersten fünf Sitzungen sind Probestunden. Wenn du das Gefühl hast, das hier funktioniert für dich nicht, sagst du es mir einfach und das war’s dann. So weit okay?«
Sascha nickte.
Als Androsch einen Block und einen Bleistift von einem Tischchen neben dem Sessel nahm und auf seinem Bein platzierte, wurde Sascha flau in der Magengegend. Jetzt ging es also los. Und er hatte keine Ahnung, was er diesem fremden Mann eigentlich erzählen sollte.
»Okay, Sascha, warum bist du hier?«
»Das wissen Sie doch bestimmt schon von meiner Mutter.«
»Ich will es aber von dir hören.«
»Meine-Mutter-meint,-ich-komme-nicht-damit-klar,-dass-mein-Vater-erschossen-wurde.« Den Blick auf seinen Oberschenkel geheftet, leierte Sascha den Satz runter, so wie er ihn sich zurechtgelegt hatte.
»Ist doch völlig normal, finde ich. Wie soll man mit so was auch klarkommen?«
Sascha sah erstaunt hoch. Hatte ihn seine Mutter nicht genau deshalb hergeschickt? War es nicht in den letzten elf Monaten ausschließlich darum gegangen,
mit der Sache klarzukommen
? Und nun tat ausgerechnet der Typ, der ihm dabei helfen sollte, so, als sei Klarkommen gar nicht das Thema! Das war so, als würde die Klausur, auf die man seit Ewigkeiten büffelte, einfach abgesagt.
»Was könnte das denn bedeuten«, fragte Androsch, »mit so einer Sache klarzukommen?«
Sascha zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Dass man nicht mehr dauernd dran denkt.«
»Denkst du denn dauernd daran?«
»Keine Ahnung. Irgendwie schon.«
»Und woran denkst du da so?«
»Keine –« Sascha unterbrach sich, weil er merkte, dass er dauernd mit
keine Ahnung
anfing und ihm das ziemlich dämlich vorkam. Obwohl es ja stimmte. Er hatte keine Ahnung, was für Gedanken das waren. Waren es überhaupt Gedanken? Nach einer ganzen Weile, die ihm selbst endlos erschien, sagte er: »Eigentlich ist es mehr ein Gefühl.«
»Kannst du dieses Gefühl beschreiben?«
»Es ist irgendwie so … Ich weiß nicht …«
»Spürst du es jetzt? In diesem Moment?«
Sascha horchte in sich hinein. Er spürte – gar nichts! Keine Trauer, keinen Schmerz. Nada. Und war das wirklich nur jetzt so? Oder nicht schon die ganze Zeit? Ihm wurde plötzlich heiß, so als wäre er gerade ohne Hausaufgaben erwischt worden. Am liebsten wäre er weggelaufen. Doch er blieb sitzen und sagte mit belegter Stimme: »Keine Ahnung …«
»Es ist immer schwer, Gefühle in Worte zu fassen.«
Vor allem, wenn man gar keine hat, dachte Sascha, und sofort rollte eine neue Hitzewelle an.
Nach einer Weile klammem Schweigen meinte Androsch: »Vielleicht fällt es dir ja leichter, etwas Schönes von deinem Vater zu erzählen. Etwas, woran du dich gerne erinnerst. Gibt es da was?«
Sascha atmete auf. Er wusste nicht, was passiert wäre, wenn Androsch in diese Gefühlerichtung weitergebohrt hätte. Ich an seiner Stelle hätte nicht lockergelassen, dachte er. Anscheinend ist er doch nicht so gut, wie Mama glaubt. Schon etwas entspannter, lehnte Sascha sich zurück. Einfach irgendwas zu erzählen, war total leicht. Und ihm fiel auch sofort was ein.
»Ist ziemlich lange her«, begann er, »ich war vier oder höchstens fünf, da hat mich mein Vater mal
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