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Stirb, mein Prinz

Stirb, mein Prinz

Titel: Stirb, mein Prinz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tania Carver
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weil er die alten Knochen unter den Fingern spüren wollte. Er wollte sie berühren, erforschen, sogar liebkosen – und zugleich wollte er wegrennen, so schnell und so weit er konnte. Wie gebannt starrte er den Käfig an, während ihm der Kopf schwirrte und sein Magen rebellierte. Einem inneren Impuls folgend, den er weder erklären noch benennen konnte, streckte er die durch einen Latexhandschuh geschützte Hand aus.
    »Boss?«
    Phil blinzelte. Mickeys Stimme holte ihn zurück.
    »Schauen Sie mal hier. Das müssen Sie sich ansehen.«
    Ein Uniformierter zeigte in eine Ecke und leuchtete mit seiner Taschenlampe an die betreffende Stelle. Phil und Mickey traten näher. Hinter einem Blumenstrauß verborgen lagen einige Gartengeräte. Ein Handspaten, eine kleine Grabegabel und eine Sichel.
    »Grundgütiger«, murmelte Phil.
    Mickey sah genauer hin. »Wurden die geschliffen?«
    Die Geräte waren alt und abgenutzt. Phil prüfte die Kanten der Stahlteile. Sie glänzten hell wie Silber. Rasiermesserscharf. Sie warfen das Licht der Lampen zurück und sandten Reflexe durch den Keller.
    »Sagen Sie der Spurensicherung, sie sollen alles untersuchen«, ordnete Phil an. »Die braunen Flecken da – das ist bestimmt Blut.«
    »Glauben Sie, er hat so was schon mal gemacht?«, wollte Mickey wissen.
    »Sieht ganz so aus«, lautete Phils Antwort. Er drehte den Gartengeräten, den Blumen und dem Käfig den Rücken zu. »Also gut. Ein Plan. Wir brauchen einen Plan.« Er spürte den Käfig hinter sich. Wie ein andauernder Blick, der sich in seinen Rücken bohrte. Das Gefühl, das er in ihm auslöste, war wie ein Juckreiz zwischen den Schulterblättern. Etwas, an das man nicht herankam, das man einfach nicht loswurde …
    »Sind die Birdies schon hier?«, fragte er.
    »Müssten oben sein«, sagte Mickey.
    »Dann gehen wir.«
    Er warf noch einen letzten Blick auf den Käfig. Bemühte sich, ihn als das zu sehen, was er war: ein hässliches, widerliches Gefängnis. Er betrachtete den Boden des Käfigs. In der Ecke stand ein Eimer, und der Gestank, der von ihm ausging, legte den Schluss nahe, dass er dem Jungen als Toilette gedient hatte. Daneben standen zwei alte Plastikschüsseln, beide schmutzig und zerkratzt. Eine hatte einen verschmierten Rand, und Knochen ragten aus ihr hervor, allerdings kleiner als die, aus denen der Käfig gebaut war. Essen für den Jungen. Die andere Schüssel enthielt trübes, abgestandenes Wasser.
    Phil wünschte sich seine Lebensgefährtin herbei. Marina Esposito, die Polizeipsychologin. Sie hatten bereits an mehreren Fällen gemeinsam gearbeitet, und im Laufe der Zeit war ihre berufliche Beziehung zu einer persönlichen geworden. Doch das war nicht der Grund, weshalb er sie in diesem Moment gerne an seiner Seite gehabt hätte. Sie sollte ihm bei den Ermittlungen helfen. Ihm helfen, den Täter zu finden. Erklären, warum jemand so etwas getan hatte. Denn wenn er erst einmal das »Warum« hätte, wäre es bis zum »Wer« nicht mehr weit. Hoffte er wenigstens.
    Er konnte sich nicht vom Käfig losreißen. Ihn zu sehen hatte etwas in ihm ausgelöst, und er wusste nicht, was es war. Wie eine Erinnerung, die man einfach nicht zu fassen bekommt. Keine gute Erinnerung, so viel wusste er definitiv.
    Er konzentrierte sich, dachte angestrengt nach. Da war es, aus dem Nebel seines Gedächtnisses streckte es die Hand nach ihm aus wie ein Geist in einem Gruselfilm …
    In dem Moment fing es an. Die altbekannte Enge in der Brust. Als würde sein Herz von einer eisernen Faust gepackt. Und er wusste, dass er so schnell wie möglich nach draußen musste.
    Er eilte an Mickey vorbei nach oben. Aus dem Haus, an die frische Luft. Hinein ins Tageslicht und in den Sonnenschein, nach dem er sich so sehr gesehnt hatte. Jetzt nahm er ihn nicht einmal wahr.
    Phil stand an die Wand des Hauses gelehnt und wartete dar­auf, dass das Engegefühl nachließ. Warum? , dachte er. Warum jetzt? Es war nichts passiert, er stand nicht unter Stress. Warum also hier? Warum jetzt?
    Er holte tief Luft. Wartete ein paar Sekunden ab. Seine Angstzustände waren in der letzten Zeit viel seltener geworden. Er führte das darauf zurück, dass endlich Ruhe in sein Leben eingekehrt war. Er hatte Marina und ihre gemeinsame Tochter, Josephina. Seine Arbeit war nicht weniger aufreibend oder belastend als sonst, aber es gab jetzt Menschen in seinem Leben, die er liebte und die ihn liebten. Und ein schönes Zuhause, in das er am Ende seines Arbeitstages zurückkehren

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