Stirb schön
nicht mehr weit. Der Wind dröhnte über dem halb geöffneten Fenster, das Echo hallte von den schwarzen Wänden wider. Im Abteil roch es nach alten Socken und Ruß. Ein Aktenkoffer vibrierte auf der Gepäckablage über ihm, und er schaute nervös nach oben, ob er nicht die Blumen zerdrückte.
Schweißperlen kullerten ihm den Nacken und an den Rippen hinunter, sammelten sich überall dort, wo sein maßgeschneidertes weißes Hemd noch nicht an der Haut klebte. Er hatte die Anzugjacke ausgezogen und die Krawatte gelockert, am liebsten hätte er auch noch die unbequemen Prada-Slipper abgestreift. Tom hob das feuchte Gesicht, als sie aus dem Tunnel rollten, und roch sofort die süßere, nach Gras duftende Luft der Downlands; in wenigen Minuten würde man auch den Salzhauch des Ärmelkanals spüren. Nach vierzehn Jahren Pendeln konnte Tom sein Zuhause mit geschlossenen Augen wittern.
Er schaute hinaus auf Felder, Bauernhäuser, Hochspannungsmasten, einen Wasserturm, die fernen Hügel, dann wieder auf seine E-Mails. Er las und löschte eine Nachricht seines Verkaufsleiters, beantwortete eine Kundenbeschwerde – noch ein wichtiger Kunde, der wütend war, weil eine Lieferung nicht rechtzeitig zum großen Sommerfest eingetroffen war. Diesmal ging es um Werbekulis, letztes Mal um bedruckte Golfschirme. Die ganze Bestell- und Versandabteilung war ein einziges Chaos – teils wegen des neuen Computersystems, teils weil sie von einem Versager geleitet wurde. Auf diesem schwer umkämpften Markt tat es besonders weh, dass er in nur einer Woche zwei große Kunden – Avis und Apple – an die Konkurrenz verloren hatte.
Ein Wahnsinn.
Seine Firma brach unter der Schuldenlast fast zusammen. Er expandierte zu schnell, arbeitete auf der Überholspur. So wie auch sein Haus unter den Hypotheken ächzte. Er hätte sich von Kellie nie zum Umzug überreden lassen dürfen, denn es ging abwärts mit dem Markt, die Branche litt unter einer Rezession. Nun musste er schwer um seine Liquidität kämpfen. Das Geschäft deckte nicht länger die laufenden Ausgaben. Und trotz aller Mahnungen gab Kellie weiter wie besessen Geld aus. Fast jeden Tag kaufte sie etwas Neues, meist bei eBay, und da es ihrer Ansicht nach lauter Schnäppchen waren, zählten sie nicht für sie.
Außerdem, erklärte sie, kaufe er sich doch auch immer teure Designerkleidung. Es schien ihr völlig zu entgehen, dass er die Sachen für sein berufliches Auftreten brauchte und sie grundsätzlich im Schlussverkauf erstand.
Tom war dermaßen besorgt, dass er vor kurzem sogar mit einem Freund, der nach seiner Scheidung unter Depressionen gelitten und deswegen eine Therapie gemacht hatte, über das Kaufproblem gesprochen hatte. Bei einigen Wodka Martini, in denen Tom neuerdings öfter Trost suchte, hatte Bruce Watts ihm erzählt, es gebe Leute, die zwanghaft kaufsüchtig, aber therapierbar seien. Tom fragte sich nun, ob Kellie einer solchen Behandlung bedurfte – und wenn ja, wie er das Thema anschneiden sollte.
Der Vollidiot legte wieder los. »Hallo Bill, hier ist Ron. Ron vom Ersatzteillager. Genau der! Wollte dich eben mal kurz auf den neuesten Stand bringen – Scheiße Bill? Hallo –?«
Tom schaute unauffällig hoch. Kein Signal. Göttliche Vorsehung! Manchmal war er wirklich nahe dran, an Gott zu glauben. Dann klingelte das nächste Handy.
Sein eigenes, er spürte das Vibrieren in der Hemdtasche. Er las den Namen des Anrufers und meldete sich, so laut er konnte. »Hallo Schatz, ich bin im Zug! Im Zug! Z-u-g! Er hat Verspätung!« Er lächelte den Vollidioten an – die Rache war süß.
Während er, nun in zivilisierterem Ton, mit Kellie sprach, fuhr der Zug in Preston Park ein, dem letzten Halt vor Brighton. Der Vollidiot griff nach einer winzigen, billig aussehenden Reisetasche und stieg mit einigen anderen Passagieren aus. Erst nachdem Tom sein Gespräch beendet hatte, fiel ihm die CD-ROM auf, die gegenüber auf dem leeren Sitz lag.
Er hob sie auf und suchte nach Hinweisen auf den Besitzer. Die Hülle war aus undurchsichtigem Kunststoff, ohne Etikett oder Beschriftung. Er klappte sie auf und nahm die silberne CD-ROM heraus. Auch nichts. Er würde sie in seinen Laptop einlegen und öffnen, vielleicht fand er so einen Hinweis auf ihren Besitzer. Wenn nicht, würde er sie im Fundbüro abgeben, obwohl der Vollidiot so viel Hilfe eigentlich nicht verdient hatte.
Zu beiden Seiten des Zuges ragte nun eine Kreideböschung empor. Dann tauchten links Häuser und ein Park
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