Stoerfall in Reaktor 1
Erde die ersten paar Wochen oder Monate nach einer Reaktorkatastrophe überleben können, heißt das noch lange nicht, dass sie danach einfach wieder ans Tageslicht kommen und so weitermachen können wie vorher. Cäsium braucht zwischen 2 und 30 Jahren, bis die Werte wieder im halbwegs normalen Bereich liegen, und Strontium hat mal eben eine Halbwertszeit von mehr als 28 Jahren. Und Plutonium von 24.000 Jahren! Sich in einem Bunker verstecken zu wollen, ist so ziemlich das Hirnrissigste, was einem dazu einfallen kann.
Aber Lukas weiß, dass nicht nur Janniks Vater sich so ein Teil hat bauen lassen, ein paar der neuen Häuser oben am Waldrand haben von vornherein die Kellerräume als Bunker anlegen lassen! Wenn er es richtig mitgekriegt hat, gehört die Baufirma aus der Stadt, die diese Sonderaufträge durchführt, irgendeinem Cousin des Bürgermeisters …
Auf der Seite, die zum Hof hin liegt, führen ein paar Betonstufen zum Eingang hinunter. Lukas bückt sich unter dem Flatterband, das sie absperrt. Die doppelwandige Stahltür ist nur angelehnt, und als Lukas sich in den schmalen Gang drückt, schlägt ihm kühle Luft entgegen. Fröstelnd zieht er die Schultern hoch. Er steigt über zwei oder drei Metallschwellen, die so aussehen, als sollten hier noch irgendwelche Schleusenkammern entstehen. Von der Decke hängt ein buntes Wirrwarr an Kabeln, aber es gibt schon Licht, lange Leuchtstoffröhren verbreiten eine grauweiß blendende Helligkeit, die alle Konturen verschwimmen lässt.
Nach der letzten Schwelle zweigen links und rechts Lagerräume ab, in Stahlregalen stapeln sich bereits bis zur Decke hinauf unzählige Konservendosen und Großpackungen mit Reis, Nudeln, Kartoffelpüree, Marmelade, Kaffee und Tee, es gibt sogar ein Weinregal. Im nächsten Raum steht eine Kühltruhe, die noch nicht in Betrieb ist, aber mit Sicherheit genug Platz für ein oder zwei zerlegte Kühe oder Schweine bietet. Lukas fragt sich nur, wie sie das eigentlich machen wollen, wenn der Super- GAU dann doch noch auf sich warten lässt und sie ständig auf die Verfallsdaten auf den Lebensmitteln achten müssen, damit sie den ganzen Kram nicht irgendwann nur noch wegwerfen können …
Gedämpft hört er jetzt Stimmen, ziemlich eindeutig die von Jannik und Alex – Alex’ Stimme klingt immer so, als wäre er völlig außer Atem und gleichzeitig irgendwie unter Druck, kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Auch jetzt scheint Jannik gerade dabei zu sein, Alex zu beruhigen. Lukas weiß nicht genau, warum er sich plötzlich bemüht, kein Geräusch zu machen, sondern stattdessen den Gang entlangschleicht, als wolle er unbedingt vermeiden, dass ihn seine beiden Freunde bemerken. Er kommt sich dabei selbst albern vor, ein bisschen wie früher, wenn sie im Wald Cowboy und Indianer gespielt und sich an das feindliche Lager angeschlichen haben.
Lukas sieht jetzt eine vollständig eingerichtete Küche, rechts ein Badezimmer, dann zwei Schlafräume mit je zwei doppelstöckigen Betten von Ikea, dann so was wie einen Wohnraum, der aber noch nicht fertig eingerichtet ist. Überall stapeln sich hier Umzugskartons, an der Seite steht eine halb aufgebaute Schrankwand, natürlich auch von Ikea, Lukas erkennt die Aufbauanleitung und die Plastiktüten mit den Schrauben auf dem Boden. Der Raum ist groß, mindestens zwanzig Quadratmeter.
Er bleibt im Türrahmen stehen. Jannik hockt mit dem Rücken zu ihm auf einem Karton. Davor läuft Alex auf und ab, immer fünf Schritte hin und fünf Schritte zurück, den Blick auf den Boden gerichtet, während er seine üblichen Stakkato-Sätze abfeuert: »Ey, laber nicht, Alter, das ist voll daneben, wenn mein Alter rauskriegt, dass ich damit was zu tun habe, kann ich meine Sachen packen! Der schickt mich auf irgendein Internat oder so was, der ist sowieso schon auf hundertachtzig, weil ihm die Presse im Nacken sitzt, irgend so ein neuer Typ von der Kreiszeitung, der sich nicht abwimmeln lässt, war sogar vorhin bei uns zu Hause, am Sonntag, echt, das musst du dir mal vorstellen! Aber mein Alter hat ihn achtkantig wieder rausgeschmissen, und voll zu Recht, du, ich meine, diese Typen machen alles für irgendeine Schlagzeile, das weiß ja jeder, die biegen sich das so zurecht, wie sie es brauchen, aber das geht nicht, dass da irgendwelche Typen einfach was zusammenschmieren …«
»He, auf welcher Seite stehst du eigentlich?«, unterbricht ihn Jannik. »Ich meine nur, wenn du dich selber hören könntest – das klingt gerade
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