Stoerfall in Reaktor 1
Wasserwagen mit der automatischen Trinkvorrichtung ist leer. Gestern haben die Hunde ein Kalb gerissen, als die Katze sich in der Nacht herangeschlichen hat, waren nur noch Knochen und ein paar Fellreste übrig.
Die Hunde machen der Katze am meisten Sorgen. Sie sind überall, und es sind so viele, ein hungriges Rudel, das jedes Versteck aufspürt und sie schon mehrmals verfolgt hat. Geifernd vor Gier. Die Lefzen hochgezogen. Schnell und gefährlich.
Nur die Häuser sind noch sicher. Bereits am ersten Tag hat die Katze ein offenes Fenster entdeckt. Natürlich hat sie gewusst, dass irgendwas nicht stimmt. Noch nie war sie bisher in einem Haus gewesen, ohne dass man ihr entweder eine Schale Milch hingestellt oder sie verärgert vertrieben hatte. Manchmal hatte es Kinder gegeben, die sie gelockt und mit ihr gespielt hatten. Einmal war sie auch in einen Puppenwagen gesteckt worden, mit einer Stoffmütze auf dem Kopf. Ein anderes Mal hatten ein paar große Jungen versucht, ihr eine Schnur mit klappernden Dosen an den Schwanz zu binden. Buckelnd und fauchend war sie ihnen entkommen.
Aber jetzt ist alles anders. Die Katze ist inzwischen in vielen Häusern gewesen, und es ist überall dasselbe: Die Häuser stehen leer, die Menschen sind verschwunden. Es gibt sie noch, das weiß die Katze, manchmal fahren sie auf der Straße in schweren Lastwagen vorüber, erst gestern ist ein Trupp von ihnen auch zu Fuß im Dorf unterwegs gewesen. Sie sind von Haus zu Haus gegangen, in weißen Anzügen, die Gesichter unter merkwürdigen Helmen verborgen, durch die ihre Stimmen verzerrt und bedrohlich klangen.
Die Katze hat sie genau beobachtet, aber sie hat nicht verstanden, was sie da gemacht haben. Warum sie die Türen mit grell leuchtenden Klebestreifen versiegelt haben. Warum sie mit Farbe irgendwelche Zeichen auf die Hauswände gesprüht haben. Oder warum sie die alte Frau aus ihrem Keller gezerrt und in den Lastwagen geschleppt haben. Die Frau hat geweint und sich gewehrt, aber die Männer in den Anzügen haben sie hochgehoben und weggetragen. Die Katze kannte die Frau, sie war immer freundlich zu ihr gewesen und hatte sich oft mit ihr unterhalten, wenn sie in ihrem Garten gearbeitet hatte und die Katze zufällig vorbeigekommen war. Die Katze hatte ihr auch mehrmals eine tote Maus gebracht und auf die Türschwelle gelegt.
Als ein Hubschrauber plötzlich dicht über die Häuser knattert, versteckt sich die Katze unter einer Treppenstufe, bis der Lärm vorüber ist. Dann schleicht sie weiter. Ein Hund liegt regungslos in der Sonne. Die Katze weiß nicht, ob er schläft oder tot ist. Vorsichtig macht sie einen großen Bogen um ihn herum, sein Fell ist blutverkrustet, am Hals hat er eine klaffende Wunde, auf der die Fliegen sitzen.
Mit einem Sprung gelangt die Katze auf ein Fensterbrett, auf dem ein Topf mit Geranien steht. Die Blüten sind verwelkt, die Erde im Topf ist rissig vor Trockenheit. Als die Katze den Kopf gegen das Glas drückt, geht das Fenster einen Spalt weit auf, breit genug, um sich durchzuquetschen.
Sie gelangt in eine Küche. Auf dem Tisch liegt eine Zeitung. Daneben stehen Kaffeetassen und eine Kanne mit einem eingetrockneten Rest Milch, auf einem Teller liegen Brötchenkrümel. Die Katze springt auf den Boden, dann auf einen Stuhl, dann auf den Tisch. Gierig leckt sie die Brötchenkrümel auf, bis der Teller sauber ist. Immer noch hungrig blickt sie sich um. Auf dem Brett über der Spüle steht ein bunter Pappkarton. Die Katze hat schon mal so einen Karton gesehen, wenn sie Glück hat, sind das Haferflocken. Sie braucht drei Versuche, bis sie es schafft, den Karton im Sprung mit der Pfote von dem Regal zu stoßen. Dann schlitzt sie ihn mit den Krallen auf und macht sich über den Inhalt her. Jetzt braucht sie nur noch was zu trinken. Mit der Zunge leckt sie über den Wasserhahn. Dann versucht sie zu saugen, aber es kommt kein einziger Tropfen heraus.
Die Katze springt zurück auf den Boden und drückt sich durch den Türspalt in den Flur. Als wieder ein Hubschrauber über das Dorf fliegt, spürt sie, wie die Holzdielen unter ihren Pfoten vibrieren. Sie rollt sich neben einem Paar Gummistiefel zusammen und schiebt den Kopf auf die Pfoten. Sie kann nichts weiter tun, als abzuwarten. Irgendwann wird jemand kommen, der ihr eine Schale Wasser hinstellt.
Wolfram Hänel, 1956 in Fulda geboren, lebt mit seiner Frau und seiner Tochter in Hannover. Er arbeitete als Plakatmaler, Theaterfotograf, Werbetexter,
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