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Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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könne kein Mensch erzählen, hat er gesagt. Aber bloß mal als kleines Beispiel: In Frankreich, wo die Leute doch alle vor uns geflohen waren, da standen die Häuser leer, Kasten und Kisten gepackt. Das haben die ja alles zurücklassen müssen. Und er nun, schmutzig und zerlumpt, wie sein Zeug war, sei auch mal in so ein Haus gegangen und habe sich ein frisches Hemd genommen in seinerGröße und ein Paar Socken, das gebe er ja offen zu. Aber da habe er doch drauf gesehen, daß er sonst nichts angerührt und alles ordentlich hinterlassen habe. Am nächsten Tag aber, als er wieder vorbeigekommen sei, habe es drinnen ausgesehen, als hätten da die Vandalen gehaust. Seine eigenen Kameraden, die seien an die Truhen und Kisten rangegangen. Die hätten alles aufgebrochen, das frische saubere Bettzeug hätten sie auf den Fußboden gezerrt, drauf rumgetrampelt seien sie, für nichts und wieder nichts, aus lauter Übermut und Dollerei. Da habe er zu seinem Leutnant gesagt, was ein vernünftiger Kerl gewesen sei, wenn er mit ihm allein war: Dat geit nich gaut, Herr Leutnant, habe er gesagt, und der habe ihm erwidert: Sollst recht haben, Heinrich. Keine Achtung vor nichts – das hat nicht gutgehen können –
    Ich will ja nicht drängen. Aber jetzt geht es allmählich auf Mittag zu, und unsereins kann sich eben nicht so richtig vorstellen, was eine gute Mannschaft von ausgebildeten Spezialisten so viele Stunden lang mit – oder richtiger: in – deinem Kopf anstellt, Bruder. Ich gebe zu, ein wenig beunruhigt mich die Tatsache, daß diese Leute, wie alle Spezialisten, den heiligen Schauder vor den Abgründen ihres Faches nicht mit uns Laien teilen können; daß sie also, in unvermeidlicher Berufsroutine, deine und meine ehrfürchtige Scheu vor einem Eingriff in jene Sphäre verloren haben, in der beschlossen liegt, ob wir so oder anders sind; ob wir, nach dem Eingriff, uns nochselbst erkennen. Welche Zahl, welche Art von »Ausfällen«, »Defekten« wir notfalls dulden können, ohne uns fremd zu werden. Wenn schon einer der Sinne geopfert werden muß, dann, so würde wohl jedermann reden, der Geruchssinn. Aber den Geschmack habe ich Ihnen erhalten können, wird dein Professor dir sagen, und du wirst nicht erfahren, ob er sich, für dich und an deiner Stelle, in einem bestimmten Augenblick entscheiden mußte, zwischen Riechen und Sehen, zum Beispiel. Der Geschmack? Nicht ganz. Daß etwa bestimmte Biersorten in Zukunft ein bißchen seifig schmecken werden ... Auf Bier, Bruder, läßt sich verzichten.
    Worauf noch? Bei niederen Tieren, übrigens, sollen ja Geruchs- und Geschmackssinn »oft gekoppelt« sein. Die ersten Säuger entstanden vermutlich vor rund 200 Millionen Jahren aus säugerartigen Reptilien, die den Kampf mit den übrigen Reptilien um die ökologischen Nischen verloren und die relativ leeren Nachtnischen übernahmen – eine Existenzweise, die die Fernsinne Gehör und Geruch dringend benötigte und sie daher bevorzugt entwickelte. Einige Abzweigungen am Stammbaum der Wirbeltiere führten in Sackgassen. Ob derjenige Zweig, der zum Menschen führte, ebenfalls in einer Sackgasse enden wird, kann man noch nicht beurteilen. Der Mensch erscheint im Holozän . Überträgt man die Daten der Entwicklung des Lebens auf der Erde auf eine 24-Stunden-Skala, so begannen die Wirbeltiere ihre Evolution gegen 21 Uhr 30, die ersten Hominidendie ihre gegen 23 Uhr 57. Um zwei Sekunden vor Mitternacht, Bruder, betritt der Mensch die Weltbühne. Die Intelligenz wird zum entscheidenden Evolutionsfaktor. Der intelligente Mensch schafft sich die Mittel zur Unterwerfung der Natur und seiner Artgenossen. Die Regeln und Normen, die er sich selbst auferlegt hat, sucht er, und sei es um den Preis der Selbstvernichtung, unter Anwendung offener oder versteckter Gewalt zu durchbrechen –
    so daß, müßte ich hier sagen, obwohl dieser Anschluß allzu billig erscheinen könnte, ein Mann wie Heinrich Plaack, ehemals Landarbeiter, dann Genossenschaftsbauer, jetzt Rentner, am Ende seines Lebens auf der Steinbalustrade vor dem ehemaligen Pfarrhaus sitzt, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, die Hände zwischen den Knien herunterhängend, den Kopf geneigt, und sich fragen muß: Was ist bloß los. Was ist bloß mit manchen Menschen los. Es sei doch wirklich, hat er gesagt, als ob manche Menschen einen Wurm im Kopf hätten, der ihnen keine Ruhe lasse. So einen hätten sie auch in ihrer Kompanie gehabt, er müsse immer noch an ihn denken. So einen

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