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Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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dies bewirkt nun wieder unser zweites Gehirn, das Säugetier in uns, das limbische System, dessen Bestandteile der olfaktorische Cortex und die Hypophyse sind; mit meinen Gedanken und Benennungen nähere ich mich dem kritischen Punkt, Bruder, was dein Operateur vor sich sieht, muß ich mir anhand der anatomischen Karte des Gehirns verdeutlichen. In jenem sensiblen Bereich sollen die starken Emotionen entstehen, mächtige Leidenschaften und schmerzliche Widersprüche ... Wahrscheinlich hat die Evolution es nicht mehr für nötig gehalten, menschliche Mutanten zu selektieren, die die starke Verklammerung zwischen Geruch und Sexualität aufgegeben hatten ... Dies werden wir also nicht zur Sprache bringen. Der Geruch, Bruder, ist, wenn ich das richtig sehe, einer derjenigen Sinne, die sich auf dem Rückzug befinden. Erst nach Tagen wirst du ihn vermissen, bei dem banalsten Anlaß, wenn dein Rasierwasser geruchlos geworden ist. Durch andere, viel auffälligere Beschwerden wirst du vorher abgelenkt sein. Diejenigen Bahnen deines Neuronennetzes, die darauf gerichtet waren, Gerüche zu bearbeiten, sie in ihre Komponenten zu zerlegen und bestimmte Punkte jenes Wiedererkennungsmusters in deinem Neocortex aufleuchten zu lassen, das dieser dir dann benannte: »Veilchen«. Oder: »Gas!« – diese Bahnen liegen bei dir nun brach; der Chirurg wird es sich kaum leisten können, bedauernd die Achseln zu zucken, falls er es bemerkt hat,als er die Verbindung zwischen olfaktorischem System und Neocortex durchtrennte. Die heikleren Aufgaben stehen ihm noch bevor, im Bereich der Hypophyse, wo sein Vorgehen zugleich extrem behutsam und extrem radikal sein muß. (Die Hypophyse als die »Hauptdrüse«, die das endokrine System des Menschen beherrscht.) Die irreparablen Folgen jeder Beschädigung des Hypophysengewebes sind ihm bewußt, und bewußt sind ihm die Folgen einer Zaghaftigkeit, welche Tumorzellen im gesunden Umfeld belassen würde –
    Ich habe auf einmal gemerkt, daß ich meine Finger ineinandergekrampft hatte, daß ich sie schwer voneinander lösen konnte und daß mir Schultern und Rücken schmerzten. Ich bin aufgesprungen und habe angefangen, Lockerungsübungen zu machen. Eine Melodie ist mir dabei in den Kopf gekommen, zu der sich nach einiger Zeit drei Worte einstellten: »... die ich lange sah ...« Ich konnte den ganzen Text nicht finden, weil sich immer wieder eine Frage in den Vordergrund meiner Gedanken schob: Wo ist dein Bruder Abel? – Wer fragt? Wer stellt sich, auf meiner inneren Bühne, dieser Leib- und Lebensfrage? Wer wagt die Gegenfrage: Soll ich meines Bruders Hüter sein?
    Wie angewurzelt habe ich mitten in der Küche gestanden, und zum erstenmal habe ich begriffen, daß der zweite, der Gegenfrager, sich nicht verstellt. Nicht die Antwort schon weiß. Nein. Tief erstaunt, überrascht steht er da in der Wüste und fragt: Sollich meines Bruders Hüter sein? Das wäre neu. Und, falls die Antwort »Ja!« lauten sollte, bestürzend genug. Ob Kain danach einfach weitermachen kann wie davor? Mißgünstig; neidisch; gierig nach der Erstgeburt, das heißt: nach der alleinigen Liebe des Vaters und nach ihrer Verkörperung, dem Besitz –
    Es ist ein Uhr mittags. Bruder, was machen sie mit dir.
    Das Telefon, keine Sekunde zu früh. Ich höre das wichtigste aller Worte: normal. Ganz normal, hat die Schwester gesagt? Tatsächlich? Wir brauchen uns keine Sorgen mehr zu machen? Die Operation sei gelungen? Ach. Wirklich. Ich wußte es. Du auch? Klar, daß er noch nicht wach ist. Das ist das wenigste, findest du nicht? Es ginge dir, Bruder, den Umständen entsprechend, habe ich gehört. Ich bin bereit gewesen, die Umstände zu segnen.
    ... war eine Wolke, die ich lange sah
    sie war sehr weiß und ungeheuer oben
    und als ich aufsah, war sie nimmer da ...
    Jetzt mach ich mir was zu essen. Kann Radio hören. In Schweden habe die radioaktive Luftbelastung weiter nachgelassen. Dafür habe die Belastung des Bodens zugenommen.
    Aber ich habe erst noch die Freundin anrufen müssen. Ich habe ihr gesagt, was ich eben über meinen Bruder erfahren hatte. Ach, gut, hat sie gesagt. Sehr gut. Er steht dir wohl nahe? – Er ist das genaue Gegenteil von mir, habe ich gesagt. Er steht mir nahe. –Sie hat mich gefragt, was ich jetzt eigentlich mit meinen Saaten machen wolle, und ich habe gesagt: Wenn ich das wüßte! – Werden wir uns wohl zu Experten für Halbwertszeiten entwickeln müssen, hat sie gesagt. Hast du zum Beispiel eine Ahnung, in

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