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Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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in ihr Fach stellte, nach dem Salatbesteck aus Olivenholz griff und es präzise und mit einem scharf gezielten Wurf in die Ecke schleuderte. Es aufsammelte, wieder mit aller Kraftin die Ecke warf. Und nochmal. Und nochmal. So. Und so. Und so. Euch werde ich es zeigen. Euch habe ich so satt. Satt. Satt.
    Mit Genugtuung habe ich mir zugesehen. Die Wut, der Haß in meinem verzerrten Gesicht. Wie ich das Salatbesteck zum letzten Mal aufhob und musterte. Ein Zinken der Gabel war angeknickt. Auch gut. Gleichmütig habe ich das Besteck, das ich mir in Südfrankreich einmal sorgfältig aus einem riesigen Korb von Olivenholzbestecken herausgesucht hatte, in den Schub gelegt. Habe mich auf den Küchenstuhl fallen lassen. An Spaltungssymptomen hätte unsereins wohl auch das Seine vorzuweisen –
    Tränen? – Die Nerven, Bruder, was immer das sein mag. Bloß die Nerven. Soll doch diese verfluchte Wolke sich auflösen oder abregnen oder ich weiß nicht was. Sollen doch deine verdammten Ärzte endlich von dir ablassen. Soll doch alles wieder so sein, wie es vorher war –
    »Das Zeichen für die, die in meinem Namen predigen: Sie werden Schlangen mit den Händen aufheben, und wenn sie etwas Tödliches trinken, wird ihnen nichts geschehen ...«
    (So wäre es schon Schuld, Teilhabe an der Schuld, wenn man sagt, was man zu wissen meint, und – obwohl es verletzend sein mag – Befriedigung dabei spürt? Weil man es weiß? Weil man es sagen kann? Und schweigen wäre genauso miserabel? In welcherKlemme, lieber Bruder, sitzen wir da eigentlich alle miteinander?)
    »... und als sie dastanden«, hat der Mann im Radio gesagt, »wurde er zusehends aufgehoben, und eine Wolke nahm ihn vor ihren Augen in den Himmel weg. Unsere Vorstellungen von Raum und Zeit versagen angesichts der alles umgreifenden Wirklichkeit Gottes. Dieser Christus ist zum Vater gegangen. Das heißt, er hat die Herrschaft übernommen. Die Herren der Welt gehen, unser Herr kommt. Jesus Christus ist der Herr. Er wird wiederkommen. Er wird die Welt vollenden.«
    Fein, habe ich dem Radio erwidert. Aber so deutlich wäre es ja gar nicht nötig gewesen. Wenn es also von früh auf in uns gelegt ist, daß wir Herrschaft und Unterordnung so dringend brauchen, daß wir sie der Erfindung unserer Götter zugrunde legen müssen; daß wir (habe ich, mein Leben bedenkend, für mich hinzugesetzt), wenn wir es schon fertigbringen, uns von dem Zwang der Götteranbetung loszumachen, dem Zwang der Unterwerfung unter Menschen, Ideen, Idolen ausgesetzt sind – wo ist dann, Bruderherz, eigentlich der Fluchtweg (mit weißen Pfeilen auf grünem Grund in den Hotels markiert)? Der Notausgang –
    Mann, Bruder, bin ich müde gewesen. Die Ablenkungsmöglichkeiten sind erschöpft gewesen. Ich bin einfach auf dem Küchenstuhl sitzen geblieben und habe getan, was mir am schwersten fällt: warten. Natürlich habe ich nicht wissen können,in welchem der vielen Augenblicke, aus denen eine solche Operation sich zusammensetzt und von denen vermutlich keiner ganz ungefährlich ist, die Entscheidung über deinen Geruchssinn gefallen ist. An der Herstellung von Gerüchen ist – abgesehen natürlich von den Sinneszellen in der Nase, die nicht beschädigt wurden – der olfaktorische Cortex beteiligt. Von den drei Fernsinnen jener in der Nachtnische lebenden Reptilien – Gesicht, Gehör, Geruch – begann der Geruch an Bedeutung zu verlieren, als sich mit dem Aussterben der Reptilien die Säuger ausbreiteten und zu landlebenden Tagtieren wurden. Da die Evolution – anders als zum Beispiel die Technik – das einmal durch Selektion Geschaffene nicht vernichtet, sondern weiterverwendet, hat sie uns, als eines unserer drei Gehirne, das Gehirn von Schlange und Krokodil belassen. Die rituellen und hierarchischen Aspekte unseres Lebens seien stark von diesem R-Komplex beeinflußt, der in gewisser Weise noch Dinosaurier-Funktionen in unserem Gehirn erfüllen soll: aggressives Verhalten, Revierverhalten, die Entwicklung sozialer Rangordnungen seien von ihm mitgesteuert ... Später in der Evolution, wenn die geschlossenen Gruppen auftreten, wird der Geruch als Unterscheidungsmerkmal dringend benötigt. (Bienen töten in ihrem Stock jede Fremdbiene, die sie an ihrem Geruch erkennen.) In der menschlichen Population gebe es eine gewisse Anzahl von Individuen, bei denen – von ihren Vorfahren, den Säugern her – der Geruch als Auslöser oderVerstärker sexueller Erregung eine größere Rolle spiele als bei anderen:

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