Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
Großtuer. So einen Nichtsnutz. Wissen Sie, was der für Schlechtigkeiten fertiggekriegt hat?
    Ich habe den alten Plaack nicht dazu bringen können, seine Geschichte für sich zu behalten, obwohl ich bis in die Haarwurzeln gespürt habe, daß er drauf und dran gewesen ist, meiner inneren Galerie der unvergeßlichenGreuel ein neues Beispiel hinzuzufügen: die Geschichte von dem jungen russischen Soldaten, der, Tage nach den anderen Angehörigen seiner Einheit, erschöpft und fast erfroren aus einem Sumpfgebiet hervorkommt und den jener niederträchtige Mensch aus Heinrich Plaacks Kompanie zwingt, sich, ehe er zum Gefangenenlager hinter die Linien laufen muß, die Stiefel auszuziehen. Bei vierzig Grad Kälte, hat Heinrich Plaack gesagt, das muß sich ein Mensch mal vorstellen. Du, hab ich gesagt, überleg, was du tust, der kommt doch nie an! Da hat er nur den Kopf geschmissen, der verdammte Kerl. Und die Stiefel haben ihm nichtmal gepaßt. Das wird dir nochmal leid tun, hab ich ihm gesagt. Der Tag wird kommen. Und als er dann ein paar Wochen später mit seinem Bauchschuß dagelegen und gebrüllt hat, da hab ich gesagt: Du sei man ganz ruhig. Du denk man an den Russen, was du mit dem gemacht hast. Da hat er bloß die Augen nach oben gedreht und hat keinen Ton mehr rausgebracht. So werd ich also immer den Blick des jungen Russen sehen, das Kopfschmeißen des jungen Deutschen, und wie er daliegt und die Augen nach oben dreht. Nee, hat der alte Plaack gesagt, loswerden kann man das nie mehr. Nie. Wer das sagt, lügt.
    Das Telefon. Ich bin losgerannt. Die Freundin von vorhin. Was denn nun mit meinem Bruder sei. Weiß noch nicht, hab ich gesagt, sie operieren noch. Aha. Dann wolle sie mal wieder aus der Leitung gehn –
    Manchmal, Bruder, gerätst du in so diffuse Verhältnisse, daß du nichtmal weißt, worüber du jetzt nun eigentlich nachdenken sollst. Physiologisch muß sich das wohl als ein Flimmern in mehreren Gehirnpartien darstellen, nehme ich an. Eine vorsorgliche Bereitstellung von noch ungerichteter Energie, die nicht schnurstracks in das vorgebahnte Verbundnetz einfließt, sondern unerforschtes Gelände abtastet, ehe sie sich zum Beispiel zu einer Frage bündelt: Woher kommt bloß diese Lust an Spaltung, an Zertrümmerung, an Feuer und Explosionen!
    Du hast mir das Wort »Lust« in diesem Zusammenhang verboten. Lust, Lust ... hast du gesagt. Das sei wieder so ein übertriebener und parteiischer Begriff. Die Sache sei viel einfacher. Wenn einer einmal angefangen habe, etwas zu erfinden. Oder zu entdecken. Oder zu entwickeln: Dann könne der eben nicht mehr damit aufhören. Wer dem spaltbaren Atom auf der Spur sei, als Beispiel, der könne seine Versuche einfach nicht mehr abbrechen. – Wie die Ratten, sagte ich, welche unaufhörlich die »Lusttaste« drücken. Aber dies war ja eben meine Frage. Wo sitzt das Lustzentrum im Gehirn dieser Wissenschaftler?
    Ganz, sagte ich, würde ich diesen Kitzel wohl niemals verstehen, der jene Handvoll höchstbegabter Physiker und Chemiker vor einem halben Jahrhundert, in einem anderen Zeitalter, dazu verführte weiterzumachen. Daß es sonst »die anderen« herausbringen würden – welch schwaches Argument. –Von heute aus gesehen! hast du gesagt. Du bedenkst die Zeit nicht, die sie brauchten, um überhaupt zu verstehen, was sie da entdeckt hatten. Du glaubst doch nicht, die haben sich zusammengesetzt und den Beschluß gefaßt: Jetzt erfinden wir mal die Uranspaltung! Oder gar: die Atombombe! – Später haben sie diesen Beschluß gefaßt, sagte ich. – Später war Krieg, antwortetest du. – Eben! sagte ich, und du sagtest, ich solle mich nicht überheben. Ich solle lieber an mich selber denken. Ob ich denn innehalten könnte. Ob ich nicht mal zu ihm gesagt habe, Worte könnten treffen, sogar zerstören wie Projektile; ob ich denn immer abzuwägen wisse – immer bereit sei, abzuwägen –, wann meine Worte verletzend, vielleicht zerstörend würden? Vor welchem Grad von Zerstörung ich zurückschrecken würde? Nicht mehr sagen, was ich sagen könnte? Lieber in Schweigen verfallen?
    Das war der Drehpunkt des Tages.
    Nach einer Zeitspanne, an die ich mich nicht erinnern kann, habe ich mich in der Küche wiedergefunden, unsinnigerweise Geschirr aus der Abwaschschüssel in den Schrank räumend. Auf einmal habe ich mir zugesehen, wie ich eine der Keramiktassen, aus denen wir gerne Tee trinken, wie ein Wurfgeschoß in der Hand wog. Sie dann, zwar hart, doch ohne sie zu zerbrechen,

Weitere Kostenlose Bücher