Stoerfall - Nachrichten eines Tages
verhaßt. Josie-Gretchen unterstützt diesen Haß entschieden. Sie fängt an, sich Demonstranten anzuschließen, die vor den Toren von Livermore auftauchen. Hagelstein-Faust läßt sich, in einem Zustand von Übermüdung und Unkontrolliertheit, eine seiner genialen Ideen entschlüpfen: mit einer einzigen Bombe zwei verschiedene Vorrichtungen zur Erzeugung eines Röntgenlasers anzutreiben. Dann bringen sie ihn dazu, durch politischen Druck, eine genaue Berechnung durchzuführen. Was er eigentlich nicht will. Josie protestiert. Dann trennt sie sich von Peter. Sein Experiment, das sich denen anderer als überlegen erweist, hat schon 1980 stattgefunden. Und 1983 haben wir Ahnungslose in jenem Kinosaal gesessen.
Ein Faust, der nicht Wissen, sondern Ruhm gewinnen will. Ein Gretchen, das, anstatt an ihm zugrunde zu gehen, ihn erlösen will ... Über die neue Faust-Gretchen-Variante würde ich später nachdenken. Ich habe, wie schon früher bei manchen Gelegenheiten, ein Kältegefühl in mir gespürt, das die Tendenz hat, sich auszubreiten. Ich weiß kein Mittel gegenLeute, die insgeheim todessüchtig sind. Die Ratten. Wieder das Bild jener Ratten, denen man beigebracht hat, ihr Lustzentrum durch Druck auf eine Taste zu stimulieren. Sie hängen an der Taste. Drücken, drücken, drücken. Auf die Gefahr hin, zu verhungern, zu verdursten, auszusterben.
An welchem Kreuzweg ist womöglich die Evolution bei uns Menschen fehlgelaufen, daß wir Lustbefriedigung an Zerstörungsdrang gekoppelt haben. Oder, anders gefragt, welche Angst schottet jene jungen Männer so zuverlässig ab gegen das, was wir normalen Leute »Leben« nennen. Eine Angst, die so immens sein muß, daß sie lieber das Atom »befreien« als sich selbst ... Mein Schlaf hat unruhig an der Frage weitergearbeitet, wo meine eigene Verantwortlichkeit liege, den blinden Fleck umkreisend, den meine Wörter, sosehr sie sich anstrengen mögen, nicht kennen wollen. Nicht kennen dürfen –
Du hast, Bruder, in deinem ersten Schlaf nach der Operation geträumt, daß du fällst, fällst, fällst – von hoch oben, scheinbar unaufhaltsam. Und daß du dann noch nicht, wie angstvoll erwartet, beim Aufprall zerschmetterst, sondern weich in einem riesigen Heuhaufen landest. So hat sich von unseren frühen Vorfahren her, den Primaten, die auf Bäumen lebten, die Angst vor dem Fallen fest in uns eingeschrieben. Es ist unsere früheste Kinderangst, Bruder, die Angst überhaupt, und daß sie an jenem Tag in dir wieder freikam, ist ja nicht schwer zu verstehen.Ich dagegen bin im Traum mit unseren Großeltern zusammengewesen, in einem engen Zimmer, in dem fast nur alte Holzbetten standen, und ich habe neben unserer Großmutter Marie auf einer Bettkante gesessen und ihr den Arm um die Schulter gelegt, weil ihr Mann, unser Großvater Gottlieb, gerade gestorben sein sollte, aber sie schien nicht sehr traurig zu sein (ist ja »in Wirklichkeit« vor ihm gestorben), und auf irgendeine Weise war dieser gestorbene Großvater auch wieder anwesend, und die anderen beiden Großeltern saßen uns gegenüber, und wir sprachen davon, wie hoch die Rente von Großvater Gottlieb zuletzt gewesen sein mag, und Großmutter Marie sagte still: die Höchstrente, hundertdreißig Mark. Ich wurde sehr traurig, aber die Atmosphäre im Zimmer war friedvoll, vertraulich, obwohl die beiden Großelternpaare sich im Leben gar nicht so nahe gestanden hatten, und ich wußte mich geborgen bei ihnen, behütet und beschützt, und ich hatte auch das Gefühl, daß sie mir ein Wissen vermitteln wollten, und im Erwachen habe ich gedacht: Sie wollten mir sagen, daß wir alle sterben müssen und daß wir das annehmen können. Für eine sehr kurze Zeit habe ich da verstanden, daß unser Leben auf solche einfachen Wahrheiten zuläuft, und ich habe Dankbarkeit für meine Großeltern empfunden, und für alle die Voreltern, die sich vor mir und vor ihnen durch das Leben geplagt haben, aber dieses Gefühl ist sehr schnell geschwunden, ich habe mir meinen Nachmittagskaffee gemacht, ihn getrunken,habe erfahren, daß bisher nicht mehr als zwei Tote durch die Reaktorkatastrophe zu beklagen seien, ich habe die Stimmen gehört, die diese Zahl beinahe höhnisch bezweifelten, und die anderen, die sie für realistisch halten wollten.
Mir ist es plötzlich unaufschiebbar vorgekommen, endlich die japanischen Friedensblumen aus den Töpfen, in denen ich sie überwintern ließ, aufs Beet auszupflanzen. Nachtfröste würden doch wohl nicht mehr zu
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