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Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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die Zentren für Appetit, Gleichgewicht, Temperaturregelung, Blutkreislauf, Atmung. Man könnte ihn, jenen blinden Fleck, also auch nicht durch elektrische Reize stimulieren, wie ein gewisser Neurologe namens Penfield Erinnerungsspuren in den Gehirnrinden seiner Patienten aktivierte, indem er Strom durch sie leitete. Töne. Farben. Einen Geruch aus der Vergangenheit. Eine Orchesterkomposition mit allen ihren Feinheiten ... So könnte man also, habe ich zu meiner Beklemmung denken müssen (gelehrig sind wir ja, Bruder!), menschliche Wesen eine gewisse Zeit lang – zwanzig Jahre? Fünfundzwanzig? – ein normales, ja, ein besonders reiches menschliches Leben führen lassen, mit dem Ziel, ihren Erinnerungsspeicher »bis an den Rand« zu füllen. Danach würden diese Wesen der ihnen eigentlich zugedachten Bestimmung zugeführt oder ausgesetzt: einem öden Dasein in irgendeiner Apparatur, einer unterirdischen Raketenstation, einem Weltraumschiff. Und ein Spezialist würde sie in den ihnen bekömmlichen Intervallen an den Erinnerungsstrom hängen. Liebe. Feindschaft. Erfolg. Versagen. Zärtlichkeit. Konflikte. Naturschönheit – alleswürden sie, so intensiv sie können, wieder und wieder durchleben. Der tödlichen Langeweile ihres »wirklichen« Daseins könnten sie nicht zum Opfer fallen. Der Wunsch, lieber zu sterben, als ein solches Leben weiterzuführen, könnte nicht Macht über sie gewinnen. Ihr Gehirn hätte sich hinter ihrem Rücken (wie unangemessen die Sprache wird!) gegen sie zusammengeschlossen mit ihren Manipulatoren. Als Objekte der erbärmlichsten Sorte würden sie –
    dieser Art, Bruder, wären die Phantasien, die ich mir strikt verbieten würde, wenn ich die Mittel hätte, sie in die Tat umzusetzen. Ich dürfte sie nicht einmal aussprechen, kaum denken? In unserem Jahrhundert sei nur ein hauchdünnes Wändchen zwischen einer gedachten technischen Phantasie und ihrer Verwirklichung?
    Doch aus diesem Stoff sind die Sünden nicht, die wir uns, die ich mir vorzuwerfen hätte. Nicht zuviel – zuwenig haben wir gesagt, und das wenige zu zaghaft und zu spät. Und warum? Aus banalen Gründen. Aus Unsicherheit. Aus Angst. Aus Mangel an Hoffnung. Und, so merkwürdig die Behauptung ist: auch aus Hoffnung. Trügerische Hoffnung, welche das gleiche Ergebnis zeitigt wie lähmende Verzweiflung.
    Die Verbindung zwischen Töten und Erfinden habe uns seit den Zeiten des Ackerbaus nie verlassen, lese ich. Kain, der Ackerbauer und Erfinder? Der Gründer der Zivilisation? Es sei schwer, die Hypothesezu widerlegen, daß der Mensch selbst, durch Kampf gegen seinesgleichen, durch Ausrottung unterlegener Gruppen, das wichtigste Werkzeug der Selektion war, die eine rasche Weiterentwicklung der Gehirne bewirkte? Jene Mutanten, deren Aggressionen sich ungehemmt gegen Artgenossen richteten (bei den meisten Tierarten als ungünstig selektiert), führen beim »König der Tiere« – durch seine Intelligenz anderen Feinden relativ überlegen – zur weiteren Evolution? Tötung innerhalb der eigenen Art zur Vermeidung von Überpopulation? Begrenzte Tötung biologisch tragbar? So wurde der Mensch sich selbst zum Feind?
    Das Buch habe ich beiseite gelegt, nach einem anderen gegriffen, der Nummer einer Zeitschrift. Darin ein Artikel, den jemand mir zu lesen empfohlen hat, nicht ohne mir gleichzeitig Angst davor zu machen. Ein Jemand, der jetzt nicht einmal hier ist, wohin er gerade heute gehörte; der sich stattdessen in entfernten Gegenden der dort zufällig – angeblich! – stärkeren Strahlung aussetzt, ein Beweis mehr, daß man auch kurzfristige Trennungen heutzutage tunlichst vermeiden soll. Auf den ich also wütend geworden bin, den ich aber trotzdem nicht habe anrufen wollen, damit meine Stimme, die ich nicht so würde verstellen können, daß er ihren Unterton nicht sofort heraushören würde, ihn nicht beunruhigen konnte. (Viermal »nicht« in einem Satz.) Das hatte er nun davon, daß ich also jetzt, ungeschützt und immer noch wütend, allein diesen Artikel lesenwürde, in einem Anfall von traurigem Mut oder Masochismus, denn seine Überschrift war schon ermunternd genug, sie lautete: Die Wissenschaftler von »Star Wars«. Die Angst vor dem Artikel hat sich sehr schnell als berechtigt erwiesen, allerdings hat sie sich dann übertragen auf jene sehr jungen Wissenschaftler, von denen er handelte und die er, in ihrer Heimatsprache, »starwarriors« nannte. Ein Wort, das in mir ein Signal auslöste, welches ich noch ignorieren

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