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Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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erwarten sein; gleichzeitig mit den Samen war mir im vorigen Jahr die Anweisung zuteil geworden, die Pflänzchen müßten abgehärtet werden und würden sich dann auch in unserem Klima behaupten. Ein japanischer Soldat habe diese Blume aus dem japanischen Krieg gegen Burma mit nach Hause gebracht, als Friedenszeichen habe er sie angepflanzt, inzwischen sei sie über ganz Japan verbreitet; man wünsche sich, daß sie auch in Europa heimisch werde. Sorgfältig habe ich die Sämlinge auf einen freien Fleck im Blumenbeet gepflanzt, meine Verantwortung für diese Versuchspflänzchen ist mir bewußt gewesen. (Nur eine von ihnen hat bis in diesen kalten Herbst hinein überdauert. Aus ihren Samen versuche ich, in Töpfen Nachkommen zu ziehen, die ihrerseits in geschützter Umgebung überwintern könnten. Eine Tätigkeit, die keine Rechtfertigung braucht) –
    wie es sich, so will ich doch hoffen, von selbst versteht, daß in irgendwelchen Tiefen deines Körpers, Bruder, jetzt unausgesetzt Heilkräfteproduziert und denjenigen Regionen zugeleitet werden, die sie am meisten benötigen. Das muß nicht nur der Kopf sein, nicht nur die Wunde, die wahrscheinlich jetzt schon pulsierend zu schmerzen beginnt. Ich glaube nicht, daß du schon denkst. Jenes Zentrum, in dem Denken und Sprache aneinandergekoppelt sind, wird noch im Dämmer liegen. Die Zentren der Lautbildung, die sich bei den subhumanen Primaten vorwiegend im zentralen Höhlengrau des Mittelhirns verbergen –
    Ich habe plötzlich einen starken Bewegungsdrang gespürt, bin wieder zum Stall, habe das Fahrrad herausgeholt, habe, obwohl untrainiert, fest antretend die kleine Steigung bis zum Transformatorenhäuschen überwunden, Herzklopfen, erhöhten Puls mit Befriedigung wahrgenommen und bin dann in Schußfahrt auf der schmalen Teerstraße Richtung Nachbardorf losgeprescht. Rechts und links, habe ich gesehen, so weit das Auge reicht, würde dieses Jahr Getreide stehen, ich würde mich nicht satt sehen können an den Farbschattierungen des reifen Korns, dieser Tag, den ich nicht nur hinter mich bringen, den ich Stunde für Stunde durchleben mußte, würde Erinnerung sein. Im Nebenort habe ich nur Kinder auf der Straße getroffen, sie riefen mir etwas nach, ich drehte mich nicht um, selten kommt ein Fremder auf dem Fahrrad durch dieses abgelegene Dorf. Im gleichen Augenblick, da ich das Ortsausgangsschild überfuhr, ist unmittelbar über mir, so ist es mir vorgekommen, der erste Düsenjägerdurch die Schallmauer gestoßen; da ich nicht imstande bin, mich daran zu gewöhnen, bin ich wieder bis in mein Innerstes erschrocken, bin geduckt und so schnell wie möglich weitergefahren, um den Schutz des Waldes zu erreichen, während die Düsenjägereinheit von dem unweit gelegenen neuen Flugplatz ihr Übungsprogramm absolvierte. Ich habe mich längst damit abgefunden, daß von den letzten Kriegstagen her die Angst vor Flugzeugen, die mit Maschinengewehrgarben direkt auf mich herunterstoßen, mich nie verlassen wird, schweißnaß habe ich den Waldrand erreicht, bin rechts von der Straße abgebogen und auf dem holprigen schmalen Pfad, der meine ganze Aufmerksamkeit erfordert hat, bis zu jener Stelle gefahren, neben der rechterhand unser Steintanz liegt. Das Rad habe ich neben den Weg gelegt und bin die dreißig, vierzig Meter über den federnden Waldboden gegangen. Da standen die Steine. Neun urtümliche, hochkantig aufgerichtete Feldsteine in einem regelmäßigen Kreis, unter alten Buchen – später, im Hochsommer, bei voll entwickeltem Laub, in einer grünen Dämmerung; jetzt, da die Buchen erst beginnen, ihr Grün herauszutreiben, in einem mir ungewohnten, nur leicht gefilterten Licht. Warum wir immer wieder hierher zurückkehren, uns an den Rand oder in die Mitte des Kreises stellen, den die Steine markieren, das ist uns bewußt: Wir suchen das Geheimnis. Selbst wenn diese Steine nicht in grauer Vorzeit hier aufgestellt wurden (»... im zentralen Höhlengrau des Mittelhirnsverbergen ...«), sondern in späteren Jahrhunderten – wir wollen das nicht wissen. Wir wollen uns vorstellen, daß sehr frühe Vorfahren genau diese Steine und ihre Aufstellung zu einem Muster genau an dieser Stelle gebraucht haben, um ihre Zeremonien zu vollziehen – blutige? unblutige? –, mit deren Hilfe sie sich in ihrer Überzeugung von der Überlegenheit, ja Allgemeingültigkeit ihrer Wesensart befestigten. Angesichts unserer eigenen Abgrenzungs-Zeremonien und -Bauwerke haben wir aufgehört, das

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