Stoerfall - Nachrichten eines Tages
Bruder, später zu fragen, wann du, an jenem Tag, der dann Vergangenheit geworden sein wird, wohl aus der Narkose erwacht bist. Dreizehn Uhr fünfundvierzig? wirst du sagen. Warte mal. Du, das kann durchaus möglich sein. Ja. Das kann hinkommen. Weit weg, ganz verschwommen, habest du das Gesicht des Arztes über dir wahrgenommen, und wahrscheinlich habe er sich die Lunge aus dem Hals geschrien, ehe du seine Frage verstanden hättest: Sehen Sie mich? Können Sie mich sehen! Und wie du ihm bei aller Anstrengung nicht habest antworten können, bis es dir eingefallen sei, die Augen bestätigend zu öffnen und zu schließen. Er sieht! habest du gehört. Ich sehe, wirst du geflüstert haben, sehr heiser noch, weil der Tubus, den man dir der Narkose wegen in die Luftröhre hatte einführen müssen, ein Wundsein der Stimmbänder zurückläßt; die aber werden heilen. Ja, wirst du immer deutlicher sagen können, schließlich so laut, daß ich es am Telefon werde vernehmen können, morgen schon: Ich sehe. Und für Tage wird uns das Wort »Sehen« in seinem ganzen vielfältigen und umfassenden Sinn wieder gegenwärtig sein.
Ein Tag. Ein Tag wie tausend Jahre. Tausend Jahresind wie ein Tag. Woher wußten es die Alten? Die kleinsten Materieteilchen, losgelassen, zwingen uns, mit den kleinsten Zeitteilchen sorgsamer umzugehen. Jetzt bin ich aber müde, habe ich mich zu mir sagen hören. Jetzt muß ich mich aber unbedingt hinlegen. Ich habe auch nicht mehr hören wollen, daß die ersten Evakuierungen aus den umliegenden Ortschaften um den entgleisten Reaktor schon am Sonnabend mittag begonnen wurden und in wenigen Stunden beendet gewesen sein sollen. Diese Bilder habe ich mir an jenem Mittag nicht auch noch vorstellen wollen. »Evakuierung«, Bruder, das ist eins von diesen Wörtern, die wir wohl unser Leben lang nicht von der eigenen Erfahrung werden trennen können. Da sind Bild- und Gefühlsabläufe miteinander verschmolzen in die Gehirnbahnen eingeschliffen. Ich habe dann, als ich endlich lag, mich von der hartnäckigen Vorstellung frei machen wollen, wie du daliegen mochtest, den Kopf verbunden, diese Schläuche an deine Venen angeschlossen. Ich habe mir auch die Schmerzen nicht vorstellen wollen, die einsetzen mußten; deinen Durst. Ich habe deinen geschorenen Kopf vor mir gesehen, da warst du fast noch ein Kind, ein unvergeßliches Bild, in jenem Typhuskrankenhaus der mecklenburgischen Kleinstadt, in dem wir gemeinsam lagen und in dem uns beiden nach dem Typhusfieber die Haare ausgingen.
Ich will jetzt schlafen. Ich will mich ablenken, also lesen. Ich habe mich umgesehen, von meinem Bett aus, und habe gefunden, daß das Buch, das ich aneinem Tag wie diesem würde lesen wollen, vermutlich noch nicht geschrieben war. Wer legt, habe ich denken müssen, die Gefahrenzone ausgerechnet in den Umkreis von genau dreißig Kilometern? Warum dreißig? Warum immer diese geraden runden Zahlen? Warum nicht neunundzwanzig? Oder dreiunddreißig? Wäre das ein Eingeständnis, daß unsere Rechnung nicht aufgeht? Daß sich Natur und Unnatur nach unserem Dezimalsystem nicht richten? Außer in dieser unmittelbaren Umgebung bestehe keine ernsthafte Gefahr. Und wer bestimmt, wie lange Menschen dieser ernsthaften Gefahr ausgesetzt werden dürfen? Können? Oder müssen? Wer, Bruder, legt die Gefahrengrenzen fest, in denen wir leben sollen?
Alles, was ich habe denken und empfinden können, ist über den Rand der Prosa hinausgetreten.
So wie unser Gehirn arbeitet, können wir nicht schreiben. Wenn ich angefangen haben sollte, mich mit dem Verlust abzufinden, der auf dem Weg vom Gehirn über die Nervenbahnen zur schreibenden Hand unvermeidlich zu sein scheint – an jenem Mittag trat er wieder scharf in mein Bewußtsein. Verlust an Unmittelbarkeit, Fülle, Genauigkeit, Schärfe und an einer Reihe von Qualitäten, die ich nicht benennen kann, vielleicht nicht einmal ahne. Ich habe mir Umstände vorstellen können, die auch mir diese Art Verlust gleichgültig machen würden, weil sie geringfügig erscheinen werden, gemessen an den Opfern, die uns dann abverlangt werden könnten.
Ich habe mir gewünscht, mein Vorstellungsvermögen abstellen zu können. Diejenigen, die die Gefahren über uns und sich heraufbeschwören, habe ich gedacht, müssen diese Fähigkeit doch besitzen. Oder brauchen sie nichts abzustellen; haben sie, anstelle jener Ahnungen, die uns andere verfolgen, in ihrem Gehirn einen blinden Fleck? Er mag nicht lokalisierbar sein, wie etwa
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