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Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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»wild« zu nennen. Die Gehirne jener Stammesglieder, die hier getanzt, geforscht, geopfert haben mögen, waren nicht primitiver als die unseren. Den Übergang zum Homo sapiens stellt sich heutzutage niemand mehr als »Sprung« vor. Etwa hunderttausend Jahre lang stand die Größe des Gehirns in einem ungeheuren Mißverhältnis zu der Leistung, die ihm abverlangt wurde. Bedrängt von ihrem überentwickelten, überaus aktiven Nervensystem haben diese Frühmenschen, ausgestoßen aus dem Tierreich, diese Bedrängung in einen Vorteil umwandeln müssen: den Zwang, sich zu Menschen zu schaffen. »Drögen Krog« nennen die Leute aus der Umgebung heute diesen Flecken, eine Überlieferung aus der Zeit der Fuhrleute, die auf der nahe vorbeiführenden alten norddeutschen Salzstraße nach Polen unterwegs waren und hier Rast machten: eine trockene Rast, in diesem Krug wurde nicht ausgeschenkt –
    Das Wuchern des Gehirns könnte durch eine lange Periodeder Vorgeschichte hindurch ebensosehr Hindernis wie Hilfe für die Vorfahren des Homo sapiens gewesen sein. Jene Steine, Bruder, jene Tänze und Zeremonien haben ihnen geholfen, einen kulturellen Apparat zu entwickeln, Formen, in die sie ihr Menschsein fassen konnten. Wir sagen: Sitte –
    Ganz still ist es beim Steintanz gewesen, ich habe lange dort gestanden, an den größten der Steine gelehnt, und mich den Bildern überlassen, die mich hier überkommen. Der Wald hat stark nach Frühling gerochen. Du weißt, daß man Gerüche nicht beschreiben kann. Es muß ungefähr der Zeitpunkt gewesen sein, da der Chefarzt zu dir ans Bett gekommen ist und, da er dich wach sah, über den Verlauf der Operation zu dir sprach, was du aber, unfähig, dich zu konzentrieren, noch nicht aufnehmen konntest. Auf seine wiederholte eindringliche Frage: Sie sehen mich doch? hast du diesmal ein deutliches, wenn auch heiseres »Ja!« herausgebracht, was ihn ungemein zu befriedigen, ja, zu erleichtern schien; dich wiederum hat seine Aussage beruhigt, die er so oft wiederholte, bis sie in deinen träge und widerwillig arbeitenden Informationsapparat Eingang fand: Nach menschlichem Ermessen haben wir alles, was von Übel war, entfernt.
    Ich kann nur hoffen, daß der Duft des Waldes im Frühling fest in deiner Erinnerung verankert ist. Was macht mein Kind / was macht mein Reh ... Ich bin noch ein Stück durch den Wald gegangenund habe nach Anzeichen von Krankheiten an den Bäumen gesucht, aber keine entdecken können. Daß wir nur die Wahl haben sollen, mit der Radioaktivität oder mit dem Waldsterben zu leben, hat mich, als wir einmal darüber sprachen, zu übersteigerten, wie du fandest: zu überspitzten Äußerungen verführt. Äußerungen über die falschen Alternativen, zwischen die wir gestellt sind. Dann – habe ich dich reden hören –, dann müsse ich auch bereit sein, meine Ansprüche an Komfort zurückzunehmen. Was macht mein Kind / was macht mein Reh / nun komm ich noch zweimal und dann nimmermehr . Ist es denn wahr: Haben uns unsere eigenen Wünsche an diesen Punkt gebracht? Hat unser übergroßer unbeschäftigter Gehirnteil sich in eine manischdestruktive Hyperaktivität geflüchtet und, schneller und schneller, schließlich – heute – in rasender Geschwindigkeit immer neue Phantasien herausgeschleudert, die wir, unfähig, uns zu bremsen, in Wunschziele umgewandelt und unserer Maschinenwelt als Produktionsaufgaben übertragen haben?
    Zurück ist es sich schwerer gefahren, gegen den Wind, der am Nachmittag aufgekommen war. Linkerhand habe ich am Waldrand nun auch das Rudel Rehe äsen sehen, in der Getreidesaat. Was macht mein Kind / was macht mein Reh / nun komm ich noch diesmal und dann nimmermehr . Endlich hat mein Gedächtnis herausgefunden, wo dieser Spruch vorkommt, wer ihn sagt und wie diese ganze Erinnerung mit dem Grundmuster dieses Tages zusammenhing.Ich habe auflachen müssen. Brüderchen und Schwesterchen. Dies Märchen hat uns als Kinder in abgrundtiefe Traurigkeit versetzt, und doch mußten wir immer wieder zu ihm zurückkehren. Immer wieder sind wir, verstoßen von der bösen Stiefmutter, in die Wildnis hinausgegangen, Hand in Hand, und die Brunnen, aus denen du trinken wolltest: Schwesterchen, mich dürstet. Wenn ich ein Brünnlein wüßte, ich ging und tränk einmal. Ich mein ich hört eins rauschen ..., die Brunnen warnten uns mit ihren raunenden Stimmen, die ich dir übersetzte: Brüderchen, trink nicht. Sonst wirst du ein wildes Tier und wirst mich zerreißen. Da hat meine

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