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Störgröße M

Störgröße M

Titel: Störgröße M Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ulbrich
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jemand, der nicht ich ist.«
»Ich glaube dir.«
»Natürlich du. Du hast immer an mich geglaubt. Nein, das ist falsch. Du hast an dich geglaubt, an deine Stärke, an deine Unbesiegbarkeit.«
Mit Schweigen schien sie seinen gewichtigen Worten ihre Bedeutsamkeit nehmen zu wollen. Als sie schließlich die Kraft zu einer Erwiderung fand, klang es wie eine Entschuldigung. »Ich erinnere mich, wie du beklagtest, die anderen nähmen dich nicht ernst. Damals kannte ich dich kaum, aber ich hatte Vertrauen zu dir – und zu deinem Spleen.«
»Es hat sie das Leben gekostet«, äußerte er ohne Vorwurf. »Für sie waren Selbstbeherrschung und Willenstraining was für Nervöse, für Hypochonder. Ich haßte meinen Spitznamen.«
Sie lachte zärtlich. »Der Fakir. Mir hat der Name imponiert.«
Er ließ den Kopf auf das Helmpolster sinken. »Man hatte sie nicht gelehrt, Vertrauen zu sich selbst zu entwickeln. Notdürftig hatte man ihnen beigebracht, ihren Körper zu benutzen und ihren Intellekt zu gebrauchen. Aber die Einheit von beiden…« Er schwieg. Es gab nichts mehr zu sagen.
»Meinst du, sie könnten noch leben?«
»Möglich.«
»Alle?«
»Vielleicht.«
»Jeder x-beliebige könnte meine Stelle einnehmen? Kindler, Schuchard, König, Johnson…?«
»Bist du auf Tote eifersüchtig?« Er verstummte und fuhr nach einer Weile fort: »Nein, nicht alle. Ein bißchen Herzrhythmus beeinflussen, das lernt schließlich jeder. Doch das, was wir vollbracht haben… Schließlich und endlich hatten wir auch Glück, daß wir nur den nachrutschenden Schutt abbekamen. Nein, du bist nicht ersetzbar, nicht für das Überleben und schon gar nicht für mich. Ich liebe dich.«
»Wie im ersten Augenblick«, sagte sie. »Ist das nicht alles ein Werk des Zufalls, angefangen bei unserer ersten Begegnung? Die Jahre, die wir nur von Bildschirm zu Bildschirm miteinander umgehen konnten. Zufall, nichts als Zufall. Daß wir beide damals Dienst hatten, daß Grund war, Meldungen auszutauschen. War es Zufall, daß unser Beruf uns immer wieder auseinanderriß, näherten wir uns einmal weniger als zehn Millionen Kilometer?«
»Zufall«, bemerkte er. »Das klingt so abwertend. Nichts von einem großen, unabdingbar wirkenden Gesetz. Man wünscht sich doch Gesetz zu sein, überall im Leben. Am meisten bei seinem Liebsten. Es waren keine Zufälle. Es war die Gesetzmäßigkeit unseres Lebens. Wir erfüllten Pflichten und begegneten einander. Während unsere Sehnsucht wuchs, erfüllten wir Pflichten. Wir erfüllten Pflichten und wurden währenddessen einander unentbehrlich. Wir nennen es Liebe. Das ist beinahe eine eindeutige Bezeichnung.« Er lachte.
Sie aber sagte ernst: »Vielleicht hat die Menschheit inzwischen eine Wissenschaft daraus gemacht. Definierbare Zustände drängen doch nach Systematisierung. Nein, ich beharre auf dem Zufall. Wenn er noch eine Daseinsberechtigung in ihrem Leben hat, dann 1 ist die Chance für uns größer.«
»Welche?« fragte er.
»Die, hier herauszukommen, und die, mit ihnen zu leben.«
»Spitzfindigkeiten. Der Zufall ist auch nur eine Gesetzmäßigkeit. Wir können ihre Komplexität nicht mehr fassen. Die Menschen der Zukunft«, sagte er mit leichtem Spott, »werden die Liebe beherrschen wie die Beschleunigung ihres Herzschlags. Sie werden der Liebe zu ihrer Pflicht gehorchen. Das ist unsere Hoffnung auf Rettung. Wir dagegen wären Egoisten. Wir sind es in der Liebe.«
»Bist du sicher?«
»Absolut.«
»Du bist ein göttlicher Tröster.«
»Du greifst vor. Das haben wir noch nicht ausprobiert.« »Wir werden es nachholen.«
»Deinen Optimismus möchte ich haben.«
Sie ging auf seinen Ton nicht ein. »Möchtest du nicht erfahren, wie das ist, in meinen Armen zu liegen? Ich stelle mir dich zärtlich vor.«
»Ich bin ein Klotz.«
Sie lachte. »Du lügst.«
»Meinst du, ich wüßte noch, wie ich bin?« sagte er. »Als Mann oder sonstwie? Ich hab’s vergessen. Nach einhundertsiebzig Jahren Nachdenken habe ich nicht mehr den geringsten Schimmer von mir. Nur sehr unbestimmt ahne ich, eine Frau ist etwas sehr Schönes.«
Ihr Atmen klang verändert an sein Ohr, und er verstummte. Sie hatte die Arbeit wieder aufgenommen. Einmal fingen die Außenmikros ein Poltern ein. Er fragte: »Rutscht es wieder?«
»Keine Sorge«, antwortete sie. »Ich habe es bald geschafft.«
Die Zuversicht in ihrer Stimme wehrte seiner Furcht. Eine grenzenlose Ruhe überkam ihn, aus der Gedanken aufschossen wie Mitternachtsraketen. Was ist aus mir geworden? Wer, nun

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