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Störgröße M

Störgröße M

Titel: Störgröße M Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ulbrich
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Meeres. Tief ins Land
erstreckte sich eine enge Bucht, ein Fjord, wie an den Küsten
Skandinaviens. Der Platz erschien ihm als Landebahn
ausreichend. Die Geräte orteten keinerlei
Unterwasserhindernisse. Im Nachtsichtschirm zeigte sich eine
glatte Wasserfläche. Als er eben zum Landeanflug
einschwenkte, hörte er, kaum wahrnehmbar, Vanderboldts
Stimme. Von atmosphärischen Störungen zerrissen, erreichte
sie sein Ohr.
»Eine… hat… ge… konnten nichts… enorme Kraft… sind
hart… flugun…« Die Worte wurden leiser und leiser.
Rauschen übertönte sie dumpf und drohend.
Die Verzweiflung erstickend, fluchte Drunen. Es war glatter
Wahnsinn, noch einmal loszufliegen. Catlin mußte unter allen
Umständen versorgt werden. Immerhin, sie lebten. Über den
Inhalt von Vanderboldts Worten konnte er später nachdenken. Die Landung stellte ein Meisterstück dar. Dicht neben dem
Ufer kam der Gleiter zur Ruhe. An den Felsen brach sich das
aufgewühlte Wasser. Das Fauchen der Triebwerke hallte wider.
Dann war Stille. Er kam sich gefangen vor. Hastig sicherte er den Gleiter an Ufersteinen sowie mittels des Haftankers auf
Grund. Er kroch zurück.
Nicht mehr als ein Knopfdruck war nötig, die
Wiederbelebung in Gang zu setzen. Er lehnte sich erschöpft im
Sessel zurück. Über ihm wölbte sich sternklarer Himmel. Von
einem dieser funkelnden Lichtpunkte waren sie gekommen. Er schwebte auf. In seiner Nähe befand sich nichts, kein
Gegenstand und kein Gedanke. Die Zukunft war so weit
entfernt wie ein anderes Leben.

Störgröße M
    Vielleicht konnte ein Körper so unempfindsam werden. Wehrt sich damit der Organismus gegen das Unerträgliche? Wie nach langer, grausamer Folter vielleicht empfand er keinen Schmerz, weder Wärme noch Kälte. Aber er erinnerte sich an eine Pflicht. Die Erinnerung war verschwommen. Eine Beunruhigung ging von ihr aus. Er versäumte Zeit. Er trat nicht das, was ihm aufgegeben war. Man würde ihn zur Rechenschaft ziehen. Joddock würde fluchen. Verdammt, das bringt uns alles durcheinander! Dieser verdammte Gasausbruch! Zeit, Zeit! Alles durcheinander, Koordinierungspläne, Verpflichtungen, Vertragspartner! Verdammte Scheiße! Joddock fluchte gerne, und seine Flüche hatten etwas Liebenswertes, ja, Poetisches. Aber Canabis konnte ja nichts tun. Er war hilflos. Seine Lippen, sein Unterkiefer zitterten. Doch seine Augen waren wie ausgetrocknet. Keine Träne brachte Linderung gegen das Brennen. Sie waren alle längst gestorben und mit ihnen seine Pflicht. Er war unabhängig von den Forderungen der Gemeinschaft. War er frei? Wo befand er sich? Wann? Noch hatte sein Bewußtsein keine Orientierung. Er empfand die Vergangenheit mehr, als daß sich Bilder einstellten. Er meinte, sich in einer Gefahr zu befinden. Er wollte aufschreien. Aber er hatte keine Stimme. Wer sollte seinen Schrei vernehmen?
    Etwa mit dem zehnten Erwachen hatte er erkannt, daß er ohne Blick zu sehen vermochte. Ihm fehlte jede vernünftige Erklärung für das Phänomen. Eine Zeitlang glaubte er an eine Täuschung, denn die Vermutung, ein Willensakt sei die wunderbare Kraft, welche die Metamorphose der Sinne verursacht hatte, erschien ihm zu phantastisch. Aber hatte er nicht die Kraft seines Willens erprobt? Sie lebten noch!
    Ohne daß den Raum der geringste Lichtschimmer erhellte, sah er seine Grenzen. Vielleicht verursachten Strahlungen eine Stimulierung der elektrischen Impulse in den Nervenbahnen? Vielleicht vermochte ein Wille, gespeist von der irrsinnigen Angst nicht mehr zu sein, auch das? Ein Wunder! Wie anders sollte er es sich erklären, daß sie noch immer am Leben waren, daß sie immer wieder erwachten, den Puls ihres Körpers fühlten und seine Wärme. Sie genossen das lächerliche Glück, zu atmen und ihre Stimmen zu vernehmen. Sie lebten von der Gegenwart des anderen. Lauretta.
    Endlich hatte er sie aufgespürt. Wie beim vorigen Mal – natürlich wie beim letzten Erwachen vor diesem – lag sie eingekeilt zwischen der Geröllhalde und der Wand. Ihr linkes Bein bedeckte der Schutt nur noch bis über die Wade. Der Anblick weckte die Hoffnung wieder.
    Sie war noch nicht völlig erwacht, doch in ihr Gesicht stieg bereits eine leise Röte. Hier und da zuckte ein Muskel. So hatte er sie noch nie gesehen, und über der Freude vergaß er sein Erstaunen, nun auch Farben wahrnehmen zu können. Noch beim vorigen Erwachen vor zehn Jahren waren ihm alle Konturen wie in ein fahles Grüngrau getaucht erschienen. Welch ein Glück, welch eine

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